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  Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung "Frauenforschung" an der Universität Augsburg im WS 93/94.
Veröffenlichung in: Hildegard Macha u.a. (Hrsg.): Frauen im Aufbruch. Augsburg 1996 (Dr. Bernd Wißner Verlag).


Ist die Wissenschaft männlich?

Marianne Krüll

1. EINSTIEG, FRAGESTELLUNG
Für viele Menschen innerhalb und außerhalb der Hochschulen gilt Wissenschaft auch heute noch als objektiv, neutral, über den Alltag erhaben. Der Wissenschaftler wird herangezogen als angeblich unparteiischer Begutachter von Phänomenen, über die wir alle eine Meinung haben, die Meinung eines Wissenschaftlers aber wird als unbestreitbar richtige Wahrheit anerkannt. Eine Frage wie der Titel meines Vortrags wird als unberechtigt, wenn nicht gar unverschämt abgelehnt. Das Geschlecht habe nun wirklich nichts mit wissenschaftlicher Erkenntnis zu tun, heißt es. Man läßt höchstens noch gelten, daß die Sozial- und Geisteswissenschaften stärker mit dem Thema "Gender" (soziale Geschlechtszugehörigkeit) befaßt sind als andere, vor allem die Naturwissenschaften. Doch generell die Wissenschaft als männlich zu bezeichnen, ist noch immer höchst ungewöhnlich (nicht nur wegen des Verstoßes gegen die Grammatik!)

Wie läßt es sich begründen, daß unsere Wissenschaften durchgängig - also nicht nur die Sozial- und Geisteswissenschaften - männlich ist?

2. MEIN WERDEGANG ZUR FEMINISTISCHEN WISSENSCHAFTLERIN
Lassen Sie mich dazu kurz meinen eigenen Werdegang und mein allmähliches feministisches Bewußtwerden darstellen: Auch ich selbst habe jahrelang als Wissenschaftlerin gearbeitet in der festen Überzeugung, daß meine Forschungen, meine Bücher und Artikel genauso gut von einem Mann stammen könnten. Es fiel mir zwar auf, daß ich mich - als Soziologin - am meisten für Themen interessierte, die mit der Familie, der Sozialisation zusammenhingen, während meine männlichen Kollegen (auch schon während des Studiums) mit Schichtung, mit Macht, mit Elitenforschung, Wirtschaftssoziologie befaßten. Die soziologischen Theorien der Klassiker (Max Weber, Emile Durkheim, Sigmund Freud) und auch der modernen Autoren (Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno) blieben mir immer irgendwie fremd. Ich verstand, was sie meinten, doch sprachen sie mich nicht wirklich an. Im Studium schob ich das auf mein mangelndes Wissen, doch auch später schwand mein Unbehagen nicht.

Ich bemerkte auch, daß z.B. in der Familiensoziologie ein seltsames Frauenbild vermittelt wurde, in dem ich mich nicht wiederfinden konnte.

- Frauen wurden auf "emotionale" Rolle in der Familie festgelegt, Männer auf die "instrumentelle" - ich fühlte mich als Berufsfrau mindestens ebenso für "instrumentelle" Aufgaben zuständig wie mein Ehemann.

- Die Familie, so hieß es, habe eine "Freizeitfunktion" - aber nicht für mich, denn in der Familie mußte ich den Haushalt führen, die Kinder versorgen, von "Freizeit" keine Spur!

- Mich ärgerte auch, daß wir als Frauen in der Schichtsoziologie grundsätzlich über den Mann zugeordnet wurden: Oberschicht, Mittel- oder Unterschicht-Angehörige waren wir, weil der Mann (Ehemann oder Vater) durch seinen Beruf dieser Schicht zugerechnet wurde.

- Partnerschaft zwischen Ehepartnern wurde gemessen am Entscheidungsverhalten: Wenn in einer Befragung angegeben wurde, daß beim Kauf eines Autos oder eines Kühlschrankes beide gemeinsam die Entscheidung trafen, galt die Ehe als "partnerschaftlich" - ich hatte an die Partnerschaft in meiner Ehe noch ganz andere Ansprüche!

- In der Sozialisationsforschung ging es um Leistungsmotivation, um schulischen Erfolg - für mich wenig bedeutsame Erziehungsziele, jedenfalls für unsere beiden Töchter, denen ich Liebes- und Beziehungsfähigkeit, Lebensfreude und Aufgeschlossenheit vermitteln wollte.

Aber ich begriff lange nicht, daß mein Unbehagen an der Soziologie in meinen Forschungsgebieten damit zusammenhing, daß alle diese Forschungen und Theorien von Männern durchgeführt und formuliert worden waren. Männer setzten Maßstäbe, die ihrem Lebenszusammenhang entsprachen. Ich als Frau, deren "Reich" ja angeblich die Familie ist, fand mich nicht wieder.

Erst durch die Frauenbewegung sind mir die Augen geöffnet worden, wie sehr meine Wissenschaft eine einseitige - männliche - Sicht der Welt widerspiegelt, welch enorme Lücken der Erkenntnis dadurch bestehen, daß Frauen als Subjekte der wissenschaftlichen Forschung bis auf wenige Ausnahmen nicht zur Sprache gekommen sind.

Es war für mich wie ein Damm, der plötzlich gebrochen war und mit einer gewaltigen Woge alles fortschwemmte, das bis dahin auch für mich noch unangefochten gültige Erkenntnis über gesellschaftliche Zusammenhänge gewesen war:

- Wie konnte es nur sein, daß wir die unentgeltliche Arbeit von Müttern und Hausfrauen als Nicht-Arbeit betrachtet hatten; daß alle ökonomischen Theorien (die bürgerlichen ebenso wie die marxistische!) Familien- und Hausarbeit als "Natur-Ressource" ansahen, ihren gesamtgesellschaftlichen Wert also vernachlässigten!

- Warum hatten wir die geschlechtsspezifische Sozialisation nur beschrieben, nie aber kritisch hinterfragt, was es denn für unsere erwachsene Gender-Identität bedeutet, schon als Baby von unserer Mutter und den anderen Bezugspersonen in unserer Umgebung völlig anders behandelt zu werden, je nachdem, ob wir ein Mädchen oder ein Junge sind?

- Wie konnte es sein, daß Gewalt in der Familie vollkommen ignoriert worden war! "Inzest" - so habe ich in meinem Studium in den 60er Jahren gelernt - kommt bei uns nicht vor, sondern nur in irgendwelchen Kulturen wie bei den Ägyptern. Daß sexuelle Übergriffe von Vätern oder anderen männlichen Verwandten an Mädchen und Frauen aber - wie wir nun wissen - allgegenwärtig ist, wurde von Soziologen nicht erkannt.

Ich begann nun auch, mein eigenes wissenschaftliches Tun durch die feministische Brille zu betrachten. Auf einmal wurde mir klar, daß meine Arbeit über Sigmund Freud die Perspektive einer Frau widerspiegelte (Krüll 1979). Ich hatte nämlich Freuds Kindheit erforscht, ihn sozusagen selbst auf die Couch gelegt und dabei entdeckt, daß eigentlich auch er, der große Sigmund Freud, immer noch ein kleines Kind geblieben war! Eine solche Sicht auf einen "großen" Mann ist aber offenbar für Männer ganz besonders schwer.

3. BEISPIELE FÜR LÜCKEN IN DEN WISSENSCHAFTEN
Nachdem ich begriffen hatte, daß meine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten von meinem Frau-Sein geprägt sind, war es nur noch ein kleiner Schritt, die Wissenschaft insgesamt auf ihre "Männlichkeit" hin zu beleuchten. Und vielen anderen Frauen ging es ebenso. Überall waren wir dabei, in unseren Wissenschaften die Lücken zu füllen, die durch das Fehlen der Frauenperspektive entstanden waren:

- In der Geschichtsforschung kommen Frauen kaum vor. Welche Rolle beispielsweise die Frauen in der Französischen Revolution gespielt haben, oder was Frauen zu den epochalen historischen Geistesströmungen, wie etwa der Aufklärung, beigetragen haben, ist in der androzentrischen Geschichtsschreibung, die nur von den "großen Männern" handelt, kein Thema. - Auch die gelegentliche Darstellung großer, historisch bedeutsamer weiblicher Persönlichkeiten entspringt einem Denkmodell, das Geschichte übermäßig personalisiert. Der feministische Blick in die Geschichte ist demgegenüber auf den spezifisch weiblichen, eigenständigen, oft auch widerständigen Beitrag gerichtet, den Frauen am gesellschaftlichen Geschehen des Alltags leisten (Annette Kuhn).

- Feministische Theologinnen haben darauf hingewiesen, daß die Vermännlichung des Gottesbildes zu einer "Vergottung" des Männlichen geführt hat (Mary Daly 1981). Sie entdeckten für uns nicht nur die wunderbaren Frauen in der Bibel, sondern gingen zurück in vorchristliche Zeiten und erschlossen uns matriarchale oder frauen-zentrierte Religionen, die dem Patriarchat vorausgingen.

- In den Literatur- und Kunstwissenschaften wurden die Werke von Frauen geflissentlich ignoriert oder bagatellisiert. Oft genug haben Männer sogar die Werke von Frauen als ihre eigenen ausgegeben, was erst von Wissenschaftlerinnen aufgedeckt wurde.

- In der Musikwissenschaft wurden Komponistinnen wie Fanny Mendelssohn wiederentdeckt, ihre Werke, die nicht einmal gedruckt worden waren, zum erstenmal aufgeführt.

- Die Psychologie legt Kriterien zur Persönlichkeits- oder Verhaltensbeurteilung fest, die männlichen Normen entsprechen und zum Maßstab der Bewertung von Frauen benutzt werden, die dadurch als "normabweichend" deklariert werden konnten (Phyllis Chesler 1977).

- In der Medizin - und zwar nicht nur in der Gynäkologie und Geburtshilfe, sondern auch in der Allgemeinmedizin und in vielen anderen medizinischen Bereichen, insbesondere in der Psychiatrie - ist die Frau als Patientin und Objekt der Forschung im wahrsten Sinne des Wortes den Männern ausgeliefert. Wie menschenverachtend das medizinische Feld und Umfeld geworden ist, erleben wir zur Zeit am Skandal um die AIDS-verseuchten Blutkonserven. Verantwortlich sind Männer, denn nur sie sind in der Medizin - wie überall - Verantwortungsträger.

- Die Biologie spiegelt in allen ihren Teilbereichen eine männliche Sicht der Lebewesen wider. Selbst die für allgemeingültig gehaltene Evolutionstheorie Darwins entpuppt sich in feministischer Betrachtung als eine "Evolution des Männlichen" (Ruth Hubbard 1979, Nancy Tanner 1981).

- Und auch die Technik, sowie ihre naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer: Physik, Chemie und Mathematik gründen auf einem männlich-verzerrten Welt- und Menschenbild. Hier sind noch weniger Frauen als in den anderen Wissenschaften forschend tätig. Wie sehr diese Verzerrungen unser aller Leben beeinflussen, wird meist erst im Einsatz naturwissenschaftlicher Forschung für militärische, d.h. extrem patriarchale Zwecke bewußt. Alle Bereiche unseres Lebens sind von Männern geformt, wir Frauen sind nirgendwo maßgeblich bei den Weichenstellungen beteiligt. Stadtplanung, Raumplanung, Verkehrsplanung, Bauwesen - sind mehr oder weniger "Frauen-frei", unsere Bedürfnisse bleiben unbeachtet. Nur nachher, wenn die Katastrophen eingetreten sind, haben wir überproportional an den Folgen zu tragen, Eine feministische Kritik der Naturwissenschaften ist daher ganz besonders notwendig und wichtig.

- Ein besonders wichtiger Bereich, der quer durch alle Wissenschaften läuft, ist die Sprache. Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz waren die ersten, die darauf aufmerksam gemacht haben, wie durchgängig Frauen durch unsere Sprache unsichtbar gemacht werden. Berufsbezeichnungen, Personbezeichnungen in männlicher Form sollen angeblich uns Frauen "mit-meinen". Doch sind wir sicherlich nicht gemeint, wenn es heißt: "Die Deutschen verbringen ihren Urlaub mit Frau und Kind vorzugsweise im Inland." Als Frauen sollten wir sehr sorgfältig darauf achten, uns selbst nicht zu Männern zu machen. "Einer muß mal Protokoll führen..." wenn wir nur unter Frauen sind! - Sexistische, d.h. Frauen herabwürdigende Sprache wird überall - auch in der Wissenschaft - verwendet.

Mit der feministischen Brille auf der Nase war es unübersehbar: Frauen und ihre Lebensreiche werden in der Wissenschaft ignoriert, Frauen kommen als Subjekte der Wissenschaft kaum und als Objekte der Wissenschaft in männlicher Perspektive verzerrt vor.

4. GRÜNDE FÜR DIE MÄNNLICHKEIT DER WISSENSCHAFTEN
Der wichtigste Grund für die Männlichkeit der Wissenschaften ist selbstverständlich, daß es nicht genügend Wissenschaftlerinnen gab und gibt. Erst seit 1910 konnten Frauen überhaupt an deutschen Universitäten studieren. Aber bis heute sind sämtliche Fächer, auch die von Frauen bevorzugten, von Männern geleitet. Der Frauenanteil unter den Professoren liegt unverändert unter 5 %. Und dies, obwohl es inzwischen genügend qualifizierte Wissenschaftlerinnen gibt. Die Tendenz ist nicht zunehmend, sondern eher fallend, da mit knappen Kassen Frauen wieder eher an den Herd zurückgedrängt werden!

Beim Ausschluß der Frauen aus der Wissenschaft wirken allerdings noch sehr entscheidende Faktoren mit, die Männer grundsätzlich ignorieren:

Eine Frau, die in der Wissenschaft eine Karriere machen will, hat keinen "Hausmann" daheim, der ihr alles lästigen Dinge, wie Kinder betreuen, Kochen, Wäsche waschen abnimmt, wie dies jedem Mann in gleicher Situation wie selbstverständlich zusteht. Eine Frau muß eine Enscheidung fällen: Kinder oder Karriere. Für einen Mann sind Kinder (und die dazugehörige Frau) dagegen geradezu Karriere-fördernd, denn er muß ja, um sie zu ernähren, Geld verdienen!

Wenn Frauen beides wollen - und das wollen die meisten -, dann müssen sie unglaubliche psychische und physische Belastungen auf sich nehmen. Selbst wenn der Mann mitzieht und die Hälfte der Kinder- und Hausarbeit übernimmt, hat sie nie die ideale Situation wie der normale Karriere-Mann mit der nicht erwerbstätigen Ehefrau daheim.

Jede Frau, die eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebt, müßte also einen großen Bonus bekommen, um diese Hindernisse auszugleichen. Doch eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Für sie gelten dieselben Altersgrenzen zur Erlangung von Stellen, sie werden von Professoren entmutigt, sich weiter zu qualifizieren, weil "ihre Chancen ja so gering sind, Professorin zu werden" usw.

Vor allem werden Frauen systematisch aus der Wissenschaft herausgedrängt, wenn sie sich mit Frauenthemen befassen. Diese gelten nicht als "wissenschaftlich", weil "parteiisch". Daß alle Themen, die Männer behandeln, ebenso "parteiisch" eine Männerperspektive wiedergeben, wird nicht anerkannt. Wissenschaft sei "geschlechtsneutral", auch wenn inzwischen umfangreiche Forschungen vorliegen, die dies als eine Täuschung belegen.

Und damit kommen wir zu einem - vielleicht dem wichtigsten - Grund für die fehlende Präsenz von Frauen in der Wissenschaft: Es geht auch in der Wissenschaft, wie in allen übrigen Bereichen unserer Gesellschaft um die Erhaltung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern: Die Wissenschaft ist eine Domäne der Macht-Erhaltung für Männer. Hier werden die Theorien entwickelt, hier wird empirisch geforscht und in Praxis umgesetzt, was Männern dient! Und ihnen dient vor allem die Frau! Wenn Frauen in diese von Männern beherrschte Domäne eindringen, wenn Frauen Macht-Positionen in der Wissenschaft einnehmen wollen, sich nicht mehr mit dienenden Hilfsjobs zufriedengeben wollen, ist Männermacht bedroht.

Mehr noch: Fast jeder Karriere-Mann hat daheim eine Partnerin, die seine Karriere stützt (meist auch noch eine Sekretärin, eine Assistentin, um ihn im Berufsleben zu unterstützen). Würde er zulassen, daß Frauen ihm im Beruf Konkurrenz machen, könnte sich auch in seinem privaten Bereich Grundsätzliches ändern.

Und noch weitergehend wäre dadurch gesamtgesellschaftlich die Vorherrschaft der Männer infragegestellt. Denn mit der feministischen Brille können wir erkennen, daß Gender eine grundsätzliche Strukturkategorie unserer Gesellschaft ist, bedeutender als Klasse, Schicht, ethnische Zugehörigkeit.

Wir haben einen nach dem Geschlecht geteilten Arbeitsmarkt, der bestimmte Berufe als "weiblich" und andere - immer die höher angesehenen! - als "männlich" definiert. Wissenschaftliche Berufe gehören wie selbstverständlich zur "männlichen" Domäne.

Aber auch innerhalb der Berufszweige sind die Hierarchien so strukturiert, daß oben an der Spitze Männer fast allein herrschen, also die Macht innehaben. Auch dies ist im Wissenschaftsbetrieb überdeutlich zu erkennen.

Unsere patriarchale oder Männer-dominierte Gesellschaft würde zusammenbrechen, wenn sich die Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern zugunsten der Frauen verändern würden. Feministische Forscherinnen besonders in den Sozialwissenschaften haben dies anhand von detaillierten Analysen belegt.

So ist zu verstehen, daß Männer mit geradezu verrückten, irrationalen Argumenten alles versuchen, um Frauen weiterhin von Positionen der Macht, eben auch aus der Wissenschaft auszuschließen. Diese Argumente werden von ihnen als "wissenschaftlich", d.h. unanfechtbar, weil objektiv präsentiert.

Als feministische Wissenschaftlerinnen müssen wir uns daher auch damit auseinandersetzen, wie "Wissenschaft" von Männern definiert wird. In der ersten Frauenbewegung im 19. Jh. waren Frauen nur darauf bedacht, Bildung für Frauen zu fordern, in der Erwartung, dadurch Gleichberechtigung zu erlangen. Innerhalb der von Männern dominierten Bildungs-Institutionen ist dies jedoch nicht zu erreichen, wie wir alle heute feststellen müssen.

Es ist auch nicht mehr genug, wie in den Anfängen feministischer Wissenschaft der 60er und 70er Jahre unseres Jh., nur auf die Lücken der Forschung und Theoriebildung hinzuweisen und diese Lücken durch eigene Arbeiten aufzufüllen. Die Hoffnung, daß sich dadurch bei den männlichen Kollegen eine Einsicht in die Notwendigkeit und Bedeutung der Frauenforschung ergeben würde, hat sich nicht erfüllt. Viele von uns - ich eingeschlossen - haben anfangs auf die Einsicht gesetzt, haben gehofft, innerhalb der bestehenden Wissenschaften eine Erneuerung zu erreichen. Doch wir haben die Machtfrage nicht ernst genug genommen, haben die Brisanz unserer Forderungen in bezug auf das gesamtgesellschaftliche Geschlechterverhältnis verkannt.

Man könnte sagen, daß sich die feministische Frauenforschung seit Anfang oder Mitte der 80er Jahre in ihrer zweiten Phase befindet. Ich möchte dies am Beispiel der feministischen Kritik an den Grundfesten der Wissenschaft, nämlich den Vorstellungen von "Objektivität", "Rationalität", "Wertneutralität" und dem Anspruch auf "Wahrheit" wissenschaftlicher Erkenntnis, erläutern.

Ich möchte dabei betonen, daß es die feministische Wissenschaft nicht gibt, daß auch auf der erkenntnistheoretischen Ebene viele Ansätze entwickelt wurden, die ich hier nicht in ihren Unterschieden darstellen kann (vgl. Krüll 1990).

(1) Objektivität der Wissenschaft meint im allgemeinen eine Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand. Nur so sei eine über das subjektive Verstehen verallgemeinerbare Erkenntnis möglich. Wer das behauptet, verleugnet sich als Person, meist mit dem Ziel, die eigenen Absichten zu verschleiern, bzw. Verantwortung für das eigene Tun abzugeben. Wenn Männer meinen, "objektiv" zu sein, dann stellen sie ihre Sicht als die einzige, eben "objektive" dar, eine andere Sicht - etwa die von Frauen - wird damit von ihnen für nicht legitim, für unwissenschaftlich erklärt.

Feministische Wissenschaft geht von einer Einheit von ForscherIn und Erforschem aus. Evelyn F. Keller plädiert beispielsweise für eine "dynamische Objektivität", die sie definiert als

"das Streben nach einem Höchstmaß an echtem Verständnis der Welt um uns, einem Verständnis, das auf einem Gefühl von Verbundenheit zwischen Geist und Natur beruht. ... Dynamische Objektivität erlaubt uns, daß wir uns bewußt mit dem Gegenstand unserer Forschung als Subjekt identifizieren - was nach einigen Wissenschaftlern sogar mit Chromosomen und Elektronen möglich ist. ... Dynamische Objektivität ist das Streben nach einem Wissen, das sich der subjektiven Erfharung bedient, um größere Objektivität zu erlangen. Auf der Grundlage der Gleichartigkeit und Kontinuität sucht dynamische Objektivität die Verwandtschaft, die aus der Anerkennung der Verschiedenartigkeit erwächst. Es ist eine Form der Beachtung und Achtung der Welt der Natur, die der (idealen) Achtung für die menschliche Welt entspricht, sie ist eine Form der Liebe. Die Fähigkeit, solche Achtung zu empfinden, erfordert - ebenso wie die Fähigkeit zu Liebe und Empathie - die Verschiedenartigkeit als auchdie Gleichartigkeit zu tolerieren: sie erfordert dynamische Autonomie." (Keller 1983, S. 20, Übers. M.K.)

Dynamische Objektivität erfordert Liebe, Ehrfurcht und Verantwortung der/s ForscherIn für das Erforschte. Diese Haltung bringt eine behutsame und respektvolle Behandlung des Forschungsobjekts mit sich, es ist die Form von Fürsorge und Einfühlungsfähigkeit, die - abgespalten - nur der Frauenwelt zugeschrieben wird, die aber in die Wissenschaft hineingehört, wenn nicht weiter Menschenfeindlichkeit, Gewalt und Destruktion unsere Welt, auch die der Wissenschaft, beherrschen sollen.

JedeR von uns kann in ihrem/seinen Fachgebiete Beispiele finden, wie dynamische Objektivität anzuwenden wäre. In meinem Fach, der Soziologie,könnte sich mein Respekt für die Person, die Gruppe, die Institution, die Gesellschaft, die ich betrachten und untersuchen will, in vielfältiger Weise zeigen: In meiner Sprache, in meinen Methoden, in der Interprettion und Anwendung meiner Forschungsergebnisse. Und es kann sogar einmal sein, daß ich gar nichts untersuche, weil meine Untersuchung den Betroffenen Schaden bringen könnte. Ich kann auch auf meine wissenschaftlichen Erkenntnisse verzichten für ein höheres Ziel, das der Menschenfreundlichkeit.

Am Beispiel von Barbara McClintock, einer amerikanischen Gen-Forscherin, zeigt Evelyn Fox Keller auf, daß und wie es möglich ist, eine Trennung von Subjekt und Objekt in der Wissenschaft aufzuheben. In den vierziger Jahren führte Barbara McClintock genetische Forschungen an Maispflanzen durch. An den unterschiedlichen Verfärbungen der Maiskörner ermittelte sie die jeweiligen Erbgänge. Dabei interessierte sie sich für die Ausnahmen, für unerwartete Färbungen der Maiskörner, also für die nicht Regel-gerechten Ergebnisse ihrer Züchtungen, und suchte zu verstehen, welche Regelmäßigkeit diesen Unregelmäßigkeiten zugrundelag. Sie ging davon aus, daß die Natur nicht durch ein einziges Kausalgesetz zu erfassen ist, weil die menschliche Fähigkeit zur Herstellung von Ordnung nicht ausreicht, um die Ordnung der Natur zu begreifen. Sie näherte sich einer Pflanze, einem Maiskorn, einem Chromosom, als einem einzigartigen Organismus, in dem sich die unendliche Vielfalt der Natur manifestiert, von der sie sich, als menschliches Wesen, ebenfalls als ein Teil empfand. Evelyn Fox Keller zitiert Barbara McClintocks Beschreibung ihres Herangehens bei der Zellanalyse:

"Ich hatte das Gefühl, je mehr ich mich mit ihnen beschäftigte, desto größer und größer wurden die Chromosomen, und wenn ich wirklich mit ihnen arbeitete, dann war (...) ich ein Teil des Systems. Ich war dort drinnen bei ihnen und alles wurde groß. (...) Ich war überrascht, weil ich wirklich das Gefühl hatte, mitten drin zu sein, und da waren meine Freunde...Wenn man diese Dinge betrachtet, werden sie ein Teil von dir. Und du vergißt dich selbst." (Evelyn Fox Keller 1986, S. 177 f.)

Mit dieser wissenschaftlichen Grundeinstellung suchte Barbara McClintock nach einer genetischen Erklärung für die Unregelmäßigkeiten bei der Verfärbung ihrer Maiskörner. Sie entwickelte die Theorie der "genetischen Transposition", die besagt, daß die Anordnung der Gene auf dem Chromosom nicht unveränderlich ist, sondern daß Gene durch unvorhersehbare Außeneinflüsse von einer Stelle auf dem Chromosom zu einer anderen springen können. Anders als ihre Kollegen, die Gen-Forscher James Watson und Francis Crick, die zur gleichen Zeit mit ihrer Entdeckung der Doppel-Helix-Struktur der DNS meinten, "das Geheimnis des Lebens" entschleiert zu haben, wurde durch Barbara McClintocks Theorie die Rätselhaftigkeit der Natur sogar noch größer. Denn welche Einflüsse die Transposition der Gene bewirken, ist nicht bekannt (Evelyn Fox Keller 1986, Kap. 9). Doch bezeichnenderweise erlangten Watson und Crick höchste Anerkennung in der Öffentlichkeit, während Barbara McClintock mit ihrer Entdeckung eine Außenseiterin blieb. Zwar wurde auch sie Jahre später für ihre Theorie der genetischen Transposition, die inzwischen allgemein anerkannt wird, mit den Nobelpreis geehrt, doch ist sie mit ihrer Entdeckung auch heute nahezu unbekannt.

Evelyn Fox Keller macht an diesem Beispiel deutlich, daß mit der dynamischen Objektivität auch die Hybris (männlicher) Wissenschaft, alles erfassen, beschreiben und damit manipulieren zu können, überwunden wird. Daß sie dies am Beispiel der Genforschung darstellt, die in besonderem Maße für die Menschheit bedrohlich zu werden scheint, ist kein Zufall.

(2) "Rationalität" der Wissenschaft bedeutet in traditionellem Verständnis, daß wissenschaftliches Tun durch nüchterne, vernunftgeleitete Sachbezogenheit gekennzeichnet sei, während Emotionalität als "Irrationalität" angeblich in der Wissenschaft nichts zu suchen hat. Bemerkenswert ist dabei, daß die beiden Polaritäten wieder einmal mit den stereotypen Vorstellungen von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit übereinstimmen. Die Schlußfolgerung nämlich, daß Frauen - weil "emotionaler" als Männer - nicht als Wissenschaftlerinnen taugen, ist bis in die Gegenwart hinein ein gängiges Vorurteil.

Bei genauem Hinsehen jedoch entpuppt sich die "Rationalität" von WissenschaftlerInnen als eine nach außen präsentierte Fassade, hinter der Gefühle, wie Angst, Unsicherheit, aber auch Selbstherrlichkeit und Größenwahn verborgen sind. So ist es beispielsweise sehr auffällig, wie gefühlsbetont und wie wenig "rational" gerade in der Wissenschaft argumentiert wird, wenn die angebliche "Rationalität" verteidigt werden soll. Der Schein der "Rationalität" verdeckt die subjektive (männliche) Interessengeleitetheit wissenschaftlichen Tuns, verschleiert die "Irrationalität" einer Wissenschaft, die sich der Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Theorien und Forschungsergebnisse zu entziehen versucht.

Frauen fühlen sich nicht zuletzt auch deshalb häufig von der Wissenschaft abgestoßen oder zumindest sich nicht zu den "harten", z.B. den technischen Wissenschaften hingezogen, weil sie die Aufspaltung ihrer Person in einen rational-vernünftigen und in einen emotional-sinnlichen Teil nicht mitvollziehen wollen. Daß Frauen "weiche" Studienfächer bevorzugen, in denen diese Trennung nicht so extrem gefordert ist - etwa in den Sozial- und Geisteswissenschaften - läßt sich unter anderem so erklären. Wenn Frauen sich der männlichen Wissenschaft angepaßt haben, und meinen, das Geschlecht spiele in ihrer Wissenschaft oder in der Art, wie sie Wissenschaft betreiben, keine Rolle, dann müssen sie sich doppelt verleugnen: Als Person, die, weil sie sich als "rational" definiert, ihre Gefühle, Sinne, ihre Körperlichkeit verdrängen muß (was auch Männern abgefordert wird), und als Frau, die ihren eigenen Lebenszusammenhang als Frau in dieser Gesellschaft nicht mehr wahrnimmt und sich auch in ihrem wissenschaftlichen Tun dafür die Augen verschließt.

(3) Die "Wertfreiheit" und die "universelle Gültigkeit" der Wissenschaft erscheint in feministischer Perspektive ebenfalls als ein Versuch der Verschleierung handfester männlicher Parteilichkeit. Denn wissenschaftliche Forschung ist immer parteilich, kann sich nie aus den sozialen Kontexten lösen, in denen sie entsteht und auf die sie zurückwirkt. Dies wird zwar von vielen männlichen Wissenschaftstheoretikern in Vergangenheit und Gegenwart nicht bestritten. Es ist allerdings erstaunlich, daß erst Feministinnen darauf hingewiesen haben, in welch entscheidendem Maße Erkenntnis von der Geschlechtszugehörigkeit der/des Wissenschaftlerin/s bestimmt ist. Die Wissenschaft, wie wir sie kennen, ist aus einer Gleichsetzung von Natur und Frau hervorgegangen, die beide vom Mann gezähmt und unterworfen werden sollten. "Mutter Natur" wurde in der Bildersprache von Francis Bacon, zum "unbändig rasenden Weib", das man durch menschliche Kunst binden,"gänzlich umkehren, verwandeln und in ihrem Innersten erschüttern solle" (Bacon nach Schaeffer-Hegel, 1988, S. 5). Der Natur sollte der "Schleier entrissen" werden, um dem männlichen Willen und seiner Kontrolle zu gehorchen. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die im 16. Jahrhundert beginnende Verfolgung und Vernichtung der Hexen mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft einhergingen:

"(...) die Scheiterhaufen der brennenden Frauen wurden nicht zuletzt von dem Geist (angefacht), der sich zu den modernen Naturwissenschaften entfalten sollte. Es blieb den Ahnherren der neuzeitlichen Wissenschaften vorbehalten, Natur zu einer tobenden Megäre zu deklassieren, die es zu bändigen galt, und im gleichen Zuge die Frau zu einer Selbst-losen Naturressource zu degradieren, die als zwar notwendige, aber auch selbstverständliche Gegebenheit dem männlichen Streben zur Verfügung stehen sollte." (Barbara Schaeffer-Hegel 1988, S. 6).

Doch es ist nicht notwendig, zu den Anfängen der Wissenschaft zurückzukehren, um die frauenfeindliche Metaphorik im wissenschaftlichen Diskurs zu entdecken, der alles andere als "wertfrei" oder "wertneutral" ist. Nicht nur fehlt in den großen, von Männern geführten wissenschaftstheoretischen Debatten von Max Weber bis Niklas Luhmann eine Reflexion über ihre eigene Wertbezogenheit als männliches Gesellschaftswesen, es zeigt sich auch eine weitgehende Unfähigkeit, sich in die Position von Frauen zu versetzen, wenn sie zu Themen der Geschlechterdifferenz Stellung nehmen.

Demgegenüber fordern feministische Wissenschaftlerinnen eine "bewußte Parteilichkeit" (Maria Mies 1984a), die Forschungsobjekt und Forschungssubjekt in einen umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang, eben den des Patriarchats, stellt. Ziel feministischer Parteilichkeit ist es unter anderem, die einseitig männliche Sicht in der Wissenschaft aufzudecken und ihren Universalismus-Anspruch infragezustellen. Denn wenn sich hinter der vermeintlichen Wertneutralität massive frauenfeindliche Tendenzen verstecken, ist Wissenschaft nicht "universal", sondern "männlich".

5. GRUNDSÄTZE FEMINISTISCHER WISSENSCHAFT
Aus der hier nur sehr verkürzt dargestellten feministischen Kritik am traditionellen Wissenschaftsverständnis ergeben sich - ebenfalls in äußerster Kürze zusammengefaßt - einige Grundsätze feministischer Wissenschaft:

(1) Überwindung des Androzentrismus, d.h. der Männerzentriertheit der Wissenschaft, deren angeblich geschlechtsneutrale Begriffe, Theorien, Denkmuster und Methoden einseitig auf das Lebensspektrum von Männern hin orientiert und konzentriert sind. Sandra Harding formuliert es so:

"Wenn Frauen systematisch von der Planung und Durchführung wissenschaftlicher Projekte ausgeschlossen werden und ihre Arbeit abgewertet wird, dann ist der personenbezogene Status innerhalb der Wissenschaft ebensowenig wertfrei, objektiv und unvoreingenommen wie die Bewertung der Forschungsresultate, und dergleichen scheint auch gar nicht vorgesehen zu sein. Statt dessen steht dieser Diskurs der Wertfreiheit, Objektivität und sozialer Unvoreingenommenheit offensichtlich eher im Dienst gesellschaftlicher Kontrolle. Eine Institution, die beharrlich darauf verweist, daß sie solche Ziele bereits erreicht habe, bedient sich eines machtvollen rhetorischen Instruments, um ihren eigenen Einseitigkeiten eine Grundlage zu verschaffen, die durch eine gleichermaßen einseitige Gesetzgebung und Öffentlichkeit abgesegnet werden kann." (Sandra Harding 1990, S. 69).

Solange männliche Lebensmuster und Denkweisen zum Leitbild für ein wissenschaftliches Schaffen gemacht werden, kann Wissenschaft nicht den Anspruch erheben, für und über "die Menschen" und die Allgemeinheit zu sprechen und zu urteilen.

(2) Konsequente Anwendung der Gender-Perspektive in allen Aspekten wissenschaftlichen Tuns heißt, das Geschlecht als soziale Strukturkategorie zu betrachten. Nicht nur die realen Lebensbedingungen von Frauen und Männern sind damit gemeint, sondern auch die Denksysteme, in die wir hineingeboren werden, die wir uns aneignen und damit bestätigen, die wir aber auch in kritischer Auseinandersetzung verändern können. Gerade in der Wissenschaft sind wir aufgerufen, die gegebenen Geschlechterverhältnisse zu reflektieren, und zwar sowohl bezogen auf die Forschungs"objekte" - die insbesondere in den Sozialwissenschaften weibliche oder männliche Subjekte sind! -, als auch bezogen auf unsere eigene Gender-Zugehörigkeit als Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler.

(3) Die Forderung der Emanzipation der Frauen und damit der Überwindung der bestehenden patriarchalen Verhältnisse heißt, daß sich Frauen aus einem Zustand der existentiellen und rechtlichen Abhängigkeit vom Ehemann, vom "Patriarchat im Kleinen", aber auch aus den einengenden, biologistisch begründeten Rollenzuschreibungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext befreien müssen. Dies ist ein zentrales Thema feministisch-wissenschaftlicher - insbesondere sozialwissenschaftlicher - Forschung und Theoriebildung. Ob die Frauenemanzipation durch "Gleichheit", d.h. durch Anpassung an die Lebens- und Verhaltensweisen von Männern zu erreichen ist oder eher durch Betonung ihrer "Differenz", ist allerdings ein heißumstrittenes Thema im feministischen Theorie-Diskurs. Theoretikerinnen der "Gleichheit" streben eine Aufhebung der Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Denken und Handeln an und fordern egalitäre Verhältnisse hier und jetzt. Bestehende Unterschiede werden auf soziale, und das heißt aufhebbare, politisch abzuschaffende Zusammenhänge zurückgeführt. "Differenz"-Theoretikerinnen dagegen akzeptieren die sozialen Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die sie teilweise oder weitgehend auf biologische Unterschiede zurückführen. Sie verlangen jedoch, daß die negative Bewertung des "Weiblichen" aufgehoben wird. Die Einbeziehung "weiblicher" Werte auch in der Wissenschaft wird hier als Weg feministischer Emanzipation angesehen.

(4) Parteilichkeit und persönliche Betroffenheit bleiben die Grundlagen der Frauenforschung: Wir Frauen erfahren buchstäblich am eigenen Leibe, was es heißt, wenn das "Weibliche" in allen Bereichen wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung vernachlässigt oder wie selbstverständlich für die Interessen der Männer vereinnahmt wird. Wir wissen daher, wie sich Frauendiskriminierung "anfühlt". Das macht uns als Wissenschaftlerinnen potentiell (nicht automatisch!) sensibler und offener für die Erkundung ähnlicher Diskriminierungen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß der weibliche Lebenszusammenhang ein anderer ist als der von Männern, während Männer davon ausgehen, daß ihrer "universell" ist. Frauen bereichern die Forschung um Themen, die bislang nicht behandelt wurden. Sie wählen bevorzugt Forschungsbereiche, die ihre eigene Situation und die anderer Frauen betreffen, mit dem Ziel, sie zu verbessern.

Parteilichkeit und Betroffenheit kann aber - in der Meinung einer wachsenden Zahl von Feministinnen - nicht heißen, daß feministische Wissenschaftlerinnen unreflektiert eigene Lebenserfahrungen auf alle Frauen übertragen, so als gäbe es zwischen Frauen verschiedener Schichten, Völker, Rassen usw. keine Unterschiede. Vor allen geht es um eine differenziertere, nicht nur verunglimpfende Betrachtung derjenigen Frauen, die sich (noch) nicht der Frauenbewegung zugehörig fühlen, und uns sogar als "Mittäterinnen" des Patriarchats (Christina Thürmer-Rohr) in den Rücken fallen.

(5) Die Verbindung zur Autonomen Frauenbewegung und der Bezug zur Praxis ist und bleibt Basis feministischer Wissenschaft. Betroffenheit und Parteilichkeit bedingen eine Rückbindung von Frauenforschungsaktivitäten an die Praxis und damit an die politische Frauenbewegung. Frauenforschung und Theoriebildung ist zu einem Arbeitsfeld geworden, das sich durch die kontinuierliche Diskussion mit Frauen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Praxisfeldern immer wieder unter Beweis stellen muß. Sie empfängt und liefert Impulse aus und für die Frauenbewegung. Eine Wissenschaft "im Elfenbeinturm" ist nicht feministisch.

(6) Daraus ergibt sich zwingend die Interdisziplinarität der Frauenforschung: Wer nach den Ursachen von Gewalt gegenüber Frauen fragt, wer Frauen, die sich aus familiären oder beruflichen Abhängigkeiten lösen wollen, Hilfestellung leisten will, muß Erklärungen liefern, die die Grenzen der engen, hochspezialisierten Einzelwissenschaften überschreiten. Die außerordentliche Befruchtung, die sich gerade in der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen verschiedenster Fachgebiete für die gesamte Wissenschaft ergeben, sind bislang noch keineswegs gebührend gewürdigt worden.

(7) Frauenforschung kann - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt - keine Männerforschung sein. Frauen forschen zwar über Männer, indem sie etwa die Geschlechterverhältnisse thematisieren, doch haben Männer als Forschende in der feministischen Wissenschaft keinen Platz. Ein Mann kann kein "Feminist" sein. Forderungen von Männern in dieser Richtung laufen bei näherer Betrachtung immer wieder auf eine Vereinnahmung der Frauenforschung für ihre Interessen hinaus. Das soll nicht ausschließen, daß sich Männer auf der Grundlage einer Patriarchatskritik ihrem eigenen Geschlecht forschend zuwenden und dabei Erkenntnisse feministischer Wissenschaft heranziehen.

6. SCHLUSS
Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, um dahin zu gelangen, wo männliche Wissenschaft behauptet, heute schon zu sein: bei einer gender-neutralen Wissenschaft - besser: bei einer Wissenschaft, in der beide - die Frauen- und die Männerwelt gleichwertig und in gleichem Maße erforscht wird. Dazu müssen Frauen in der Wissenschaft ihre Stimme erheben. Wir müssen "Definitionsmacht" erlangen, damit nicht weiterhin Männer über uns und unsere Welt bestimmen, damit nicht weiterhin Männer unsere Welt zerstören!

Ich wünsche Ihnen hier in Augsburg viel Erfolg dabei!

LITERATUR

Andreas-Grisebach, Manon, Brigitte Weisshaupt (Hrgin.) (1986): Was Philosophinnen denken, Bd. II. Zürich.
Beer, Ursula (1990): Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt/New York (Campus).
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