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  Vortrag an der Universität Freiburg 1983
Veröffentlichung: "Freiburger Universitätsblätter" 1983
Erweiterte Fassung (unveröffentlicht): 2 Vorträge im Rahmen der Frankfurter Psychoanalytischen Freitagsrunde der VHS Frankfurt/Main 1993.



Freud und sein Vater
1. Familiendynamische Hintergründe der Psychoanalyse
2. Die Revision der Verführungstheorie und die Frage sexueller Übergriffe

Marianne Krüll

Einleitung

Was hat Sigmund Freuds Herkunftsfamilie mit der Frage sexueller Übergriffe zu tun, wie sie heute und in seiner Zeit traurige Realität sind/waren? Freud hat in seiner Zeit sehr Wesentliches über sexuelle Übergriffe und ihre Folgen für die Betroffenen gesagt und geschrieben. Seine Theorie der Neurosen-Entstehung, die er vor der Jahrhundertwende entwickelte, stellte diese Zusammenhänge eindeutig fest. Er hatte sie in seiner Praxis als Nervenarzt bei vielen seiner Patientinnen gesehen, die von Vätern, Onkeln, Brüdern mißbraucht worden waren und dann später an hysterischen Symptomen erkrankt waren.

Doch bestand seine Erkenntnisquelle nicht nur in den Erlebnissen, die ihm seine PatientInnen berichteten, auch in seiner eigenen Familie gab es sexuelle Übergriffe, wie er seinem Freund Wilhelm Fließ schrieb:

"Leider ist mein eigener Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders (dessen Zustände sämtlich Identifizierungen sind) und einiger jüngerer Schwestern verschuldet." (MK S. 82, 8.2.1897, Freud 1986 S. 245)

Was er damit meinte, will ich im ersten Teil aufzuzeigen versuchen. Im zweiten Teil werde ich darstellen, daß und warum Freud die frühe, sogenannte "Verführungstheorie", die er bis 1897 vertrat, aufgab und stattdessen eine Theorie entwickelte - die uns allen bekannte Ödipus-Theorie -, nach der reale sexuelle Übergriffe nicht immer Ursache für spätere psychische Erkrankungen darstellen müssen. Vielmehr behauptete er nunmehr, daß auch bloße Fantasien der Kinder zu schweren Störungen führen können, also daß keine realen traumatischen Erlebnisse von sexueller Gewalt stattgefunden haben müßten.

Im ersten Teil soll es also darum gehen, was Freud selbst als Kind und Heranwachsender erlebt hat, was die "Perversion" seines Vaters gewesen sein könnte. Freuds Theorie war nämlich gleichsam der Versuch, sich Ereignisse, die er selbst als Kind erlebt hatte, und die ihn bis in sein Erwachsenenleben hinein verfolgten, verständlich zu machen. Das Thema der "Verführung", des sexuellen Mißbrauchs oder Übergriffs war ohne Frage für ihn selbst von höchst persönlicher Relevanz. (Ich bevorzuge den Begriff "Übergriff", weil "Mißbrauch" die Assoziation zuläßt, als sei der "Ge-brauch" von Kindern zulässig und nur der "Miß-brauch" zu verwerfen!)

Lassen Sie mich zuvor noch kurz erläutern, wie ich selbst dazu kam, mich diesen Fragen zuzuwenden. Ich bin Soziologin mit dem Schwerpunkt meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Familiensoziologie und Sozialisationsforschung. Ich kenne Freuds Schriften seit meinen Studienzeiten, war aber immer ein wenig irritiert, welche Vorstellungen er sich über die kindliche Sexualentwicklung machte. Vor allem störte mich, was er über die sexuellen Fantasien von kleinen Mädchen schrieb. Nichts davon entsprach meinen eigenen Kindheitsfantasien: Ich hatte nie vermeint, einen Penis besessen zu haben, der mir abgeschnitten wurde! Dennoch war die Faszination, die seine Theorie - vor allem die Theorie des Unbewußten - auf mich ausübte, sehr groß.

Mein Interesse an Freuds Familiengeschichte wurde Ende der 60er Jahre geweckt, als ich die Briefe las, die er seinem Freund Wilhelm Fließ in den Jahren zwischen 1887 und 1902 geschrieben hatte. Diese Briefe enthalten sehr persönliche Berichte über seine Träume, Fantasien, über sein Familienleben, seine Krankheiten - aber vor allem auch theoretische Gedanken, kurze und längere Manuskripte, Fallbeschreibungen von Patienten -, so daß man als LeserIn genau verfolgen kann, wie sich Freuds Gedanken im Zusammenspiel mit seinem persönlichen Leben entwickelten, vor allem, wie sehr sie mit seiner eigenen Kindheit verknüpft waren.

Ich beschloß, einen kleinen Aufsatz über die psycho-sozio-historischen Zusammenhänge der Entstehung der Psychoanalyse zu schreiben - es wurde daraus ein dickes Buch, das 1979 erschien (erweiterte Neuausgabe 1992, Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische und Japanische).

Die Fließ-Briefe waren mir damals übrigens nur in der - von Freuds Tochter Anna und den beiden anderen Herausgebern - gekürzten Ausgabe zugänglich. Inzwischen liegt die vollständige Briefesammlung vor, die - wie ich später darlegen werde -, Freuds dramatische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit in dieser Zeit der Entstehung der Psychoanalyse noch eindrücklicher als in der früheren, "zensierten" Ausgabe belegt. Übrigens sind durch die neuen Briefe meine Thesen voll bestätigt worden.

Für mein Buch habe ich auch selbst recherchiert, war in Freuds Geburtsort Freiberg in der damaligen CSSR, habe in Archiven in Wien teilweise unbekanntes Material entdeckt, habe mit vielen Freud-Forschern in der ganzen Welt Kontakt aufgenommen.

Meine Ausgangsfrage war, was Freud bewog, seine "Verführungstheorie" just zu dem Zeitpunkt aufzugeben, als sein Vater 1896 mit 81 Jahren starb. Aus den Fließ-Briefen geht hervor, daß dieser Tod ihn in eine tiefe Krise gestürzt hatte, die - so schien es - in direktem Zusammenhang mit dem Widerruf der Verführungstheorie stand. Es schien, als habe ihn plötzlich der Mut verlassen, weiterhin die frühkindlichen Erfahrungen sexueller Übergriffe bei seinen PatientInnen als Realität ernst zu nehmen, weil er bei sich selbst in seiner Familie auf solche Vorkommnisse gestoßen war. Die "Pietät" gegenüber dem verstorbenen Vater - so drückte er sich selbst später einmal aus - verbot es ihm, in seiner Familie weiterzuforschen.

Ich fragte mich also, was denn konkret in Freuds Herkunftsfamilie geschehen sein konnte, welche Formen des sexuellen Übergriffs er auf einmal verheimlichen mußte. Was ich gefunden habe, was Freud also mit der "Perversion" seines Vater gemeint hatte, ist für unsere heutigen Begriffe eigentlich recht harmlos. Erwarten Sie also keine sensationellen Geschichten über sexuelle Gewalt in Freuds Herkunftsfamilie.

Um zu verstehen, weshalb die Vorkommnisse dennoch für Freud traumatisierend und prägend waren, müssen wir uns in die Welt Judentums in Österreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückversetzen, in der Freud lebte. Wir müssen sogar noch weiter zurückgehen in die Zeit, als sein Vater Jakob in Galizien - heute Ukraine - im orthodox-jüdischen Milieu heranwuchs, dort eine Familie gründete und als Wanderjude den weiten Weg bis nach Mähren und Wien mehrmals im Jahr zurücklegte und dann kurz vor Sigmunds Geburt den Sprung in das aufgeklärte Assimilationsjudentum wagte. Die Spannungen, die sich hieraus für das Kind Sigmund ergaben, können wir nur erahnen. (Viele Menschen, die sich heute in unseren westlichen Ländern als weitgehend ungewünschte Fremde heimisch zu machen versuchen, sind in einer ähnlichen Lage!)

Lassen Sie sich also dazu verführen, mit mir eine Reise in die Vergangenheit zu machen. Sie führt zunächst nach Tysmenitz, der Geburtsstadt Jakobs in Galizien.

 

Teil 1: Familiendynamische Hintergründe der Psychoanalyse

1815, als Jakob geboren wurde, hatte Tysmenitz ca. 6000 Einwohner, davon etwa 35 % Juden. Die Stadt war ein Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit, denn sie beherbergte eine Jeschiwa, eine Talmud-Hochschule. Die Juden in Tysmenitz waren vorwiegend Händler, die Geschäftsverbindungen zu den großen Märkten von Breslau, Leipzig und in die westlichen Gebiete Österreichs aufrechterhielten.

Man weiß nichts über Jakobs Kindheit und Jugend in Tysmenitz. Will man sich dennoch ein Bild davon machen, wie er aufwuchs, muß man sich an allgemeine Beschreibungen des Lebens in kleinen jüdischen "Städtls" des Ostens halten.

Das Städtl war eine vollständig autonome Gemeinde. Die Juden hatten zwar geschäftlich Kontakt mit Nicht-Juden, dennoch war ihr Leben völlig getrennt von dem der polnischen oder ukrainischen Bevölkerung ringsum, von der sie mit viel Mißtrauen betrachtet wurden. Denn die Juden hatten andere Bräuche, feierten andere Feste, heiligten nicht einmal den Sonntag, sondern den Sabbat am Samstag. Und auch die Juden mußten aufgrund ihrer Bräuche den sozialen Kontakt mit Nicht-Juden meiden. So waren sie beispielsweise durch die Speisevorschriften gezwungen, nur in einem Haus mit "koscherer" Küche zu essen. Ein gläubiger Jude muß die 613 "Mizvot", die Gesetze, die die Bibel vorschreibt, einhalten: Speisevorschriften, Gebete, die Sabbat-Gebote, die Sexualtabus. Durch diese Gesetze ist sein ganzes Leben festgelegt. Anders als im Christentum dient die Einhaltung der biblischen Gebote nicht nur dem eigenen Heil, sondern dem ganzen Volk, da die Verheißung der Ankunft des Messias an die Erfüllung der Gebote durch alle Juden geknüpft ist.

In der Judengemeinde hatte der Gelehrte ein besonderes Prestige. Ein Mann, der sich ganz dem Studium der Tora und des Talmud widmete, wurde von allen hoch geehrt. Eine Familie opferte alles, damit ein Sohn, der den "Kop" dazu hatte, ein Gelehrter wurde. Kleine Jungen wurden deshalb schon mit drei oder vier Jahren in den "Cheder", die Kleinkinderschule geschickt, wo sie von morgens bis abends die Tora auswendig lernten.

In dieser Welt des kleinen galizischen Städtl wuchs Kallamon Jakob Freud heran. Sein Vater Schlomo stammte aus Buczacz, nur wenige Kilometer von Tysmenitz entfernt.

Seine Mutter war Pessel (Pepi) Hofmann aus Tysmenitz. Pepis Vater, Siskind Hofmann, war ein Geschäftspartner von Schlomo Freud. Sie reisten zusammen als Handelsmänner. Später reiste auch Jakob mit Vater und Großvater.

Es wäre sehr interessant zu wissen, ob Jakob von seinen Eltern in der Tradition des orthodoxen Judentums erzogen wurde oder ob er schon als Kind von den modernen aufgeklärten Formen des Judentums erfuhr. Das orthodoxe Judentum existierte in zwei Formen: 1. dem traditionellen Rabbinertum, das ganz darauf ausgerichtet war, die Tradition des Judentums als einer Religion der Gelehrsamkeit, nämlich des Tora- und Talmud-Studiums hochzuhalten, 2. dem Chassidismus, einer mystischen Bewegung, die das einfache Volk anzog, später eine sehr einflußreiche Bewegung im Ostjudentum wurde. Ihr Begründer war der Wunderrabbi Baal Schem Tow, dessen Nachfolger ebenfalls als wundertätige Rabbis wirkten. Freud bemerkte einmal, daß sein Vater die ersten 20 Jahre seines Lebens unter dem Einfluß des Chassidismus verbracht habe, wobei aber unklar bleibt, ob er sich dieser Bewegung wirklich angeschlossen hatte.

Die dritte große Geistesströmung war die Haskala, die jüdische Aufklärungsbewegung. Maskilim, die Anhänger der Haskala, vertraten die volle Emanzipation und Integration der Juden in das Bürgertum. Maskilim bekämpften sowohl den Chassidismus als auch das traditionelle Rabbinertum, weil ihrer Ansicht nach das orthodoxe Judentum die Juden daran hinderte, den Weg in die Neue Zeit zu gehen. Andererseits sahen orthodoxe Juden in den Maskilim Verräter des wahren Glaubens und des Volkes Israel. Es ist denkbar, daß Jakob schon in seiner Jugend mit den Ideen des aufgeklärten Judentums bekannt gemacht wurde. Denn Vater und Großvater konnten diese Ideen während ihrer Reisen aufgenommen haben. Auch gab es in Tysmenitz Vertreter der Haskala. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Jakob auch noch in den Cheder ging und eine orthodoxe Bildung erhielt.

Jakob heiratete Sally Kanner mit nur 16 1/2 Jahren, denn er war 17 1/2, als sein ältester Sohn Emanuel geboren wurde (1833). 1834 wurde Philipp, der zweite Sohn, geboren. Mit 23 Jahren begann Jakob, mit seinem Großvater Siskind Hofmann und seinem Vater Schlomo Freud nach Mähren zu ziehen.

Die 600 km lange Reise legten sie mit Pferd und Wagen zurück, denn eine Eisenbahnlinie wurde erst später gebaut. Sie brachten Rohprodukte nach dem Westen und kehrten mit Fertigwaren, vor allem Textilprodukten, nach Galizien zurück. Sie reisten wahrscheinlich mit anderen Juden zusammen und übernachteten in jüdischen, d.h. in koscher geführten Wirtshäusern. Sie waren jeweils mehrere Monate von Tysmenitz fern.

Selbst wenn Jakob durch Vater und Großvater schon mit den Ideen der Haskala vertraut gemacht worden war, so war diese Begegnung mit der Welt außerhalb des Städtl für ihn gewiß sehr beeindruckend. Vielleicht boten diese Reisen ihm auch zu erstenmal Gelegenheit, sich der sozialen Kontrolle durch Familie und Gemeinde zu entziehen, vielleicht war er auf diesen Reisen sogar gezwungen, einige der jüdischen Gesetze zu brechen.

Aus Dokumenten, die in den 60er Jahren in der damaligen Tschechslowakei gefunden wurden, geht hervor, daß Jakob und sein Großvater Siskind Hofmann in Freiberg/Mähren als "tolerierte" Juden lebten, d.h. sie durften nur eine begrenzte Zeit in Mähren bleiben und konnten sich nicht niederlassen. Sie hatten auch große Schwierigkeiten, ihre Pässe verlängert zu bekommen, wie aus Bittschriften an den Freiberger Magistrat deutlich wird.

Das Jahr 1848 stellte wahrscheinlich für Jakob eine große Wende dar. Infolge der Revolution war allen Juden in Österreich das Recht der freien Niederlassung gewährt worden. Es gibt zwar keinen direkten Beleg dafür, daß Jakob diese Chance sofort nutzte, um sich in Freiberg/Mähren anzusiedeln, aber 1852 war er mit einem "Heimatschein" in der Nachbargemeinde Klogsdorf ansässig, hatte jedoch seine Wohnung in Freiberg selbst.

Diese Angabe stammt aus einem "Verzeichnis der Juden" der Gemeinde Freiberg, das noch aus anderem Grunde interessant ist. Es weist nämlich als Jakobs Ehefrau eine Rebekka auf, die damals (1852) 32 Jahre alt gewesen sein soll, also nicht Emanuels Mutter sein kann, welche im übrigen ja auch Sally hieß. Dies ist ein Hinweis darauf, daß Jakob wahrscheinlich ein zweites Mal verheiratet war, ehe er Freuds Mutter in dritter Ehe zur Frau nahm. Max Schur, der "Leibarzt" und Biograph Freuds ist der Meinung, daß Freud in einem seiner Träume auf diese geheimnisvolle Ehe seines Vaters anspielt:

"Ich erhalte eine Zuschrift vom Gemeinderat meiner Geburtsstadt, betreffend die Zahlungskosten für eine Unterbringung im Spital im Jahre 1851, die wegen eines Anfalls bei mir notwendig war. Ich mache mich darüber lustig, denn erstens war ich 1851 noch nicht am Leben, zweitens ist mein Vater, auf den es sich beziehen kann, schon tot. Ich gehe zu ihm ins Nebenzimmer, wo er auf dem Bette liegt, und erzähle es ihm. Zu meiner Überraschung erinnert er sich, daß er damals 1851 einmal betrunken war und eingesperrt oder verwahrt werden mußte. ... Du hast also auch getrunken, frage ich. Bald darauf hast du geheiratet? Ich rechne, daß ich ja 1856 geboren bin, was mir als unmittelbar folgend vorkommt." (Freud: Traumdeutung 1900, S. 421)

Solch eine Szene, meint Schur, könne tatsächlich zwischen Vater und Sohn stattgefunden haben, in der nämlich Freud seinen Vater nach jener zweiten Ehe mit Rebekka gefragt habe, die ja 1851 geschlossen worden sein könnte.

Am 29. Juli 1855 heiratete der 40jährige Jakob die noch nicht 20jährige "Jungfrau" Amalie Nathansohn in Wien. Ihr Vater Jacob Nathansohn war Handelsagent in Wien, vielleicht kannten sich die beiden Männer geschäftlich. Dennoch ist es seltsam, daß Jacob Nathansohn seine Tochter einem Mann gab, der ihr Vater hätte sein können. Jakob Freud war gewiß kein reicher Mann, wie aus Dokumenten, die in Freiberg gefunden wurden, hervorgeht. Ich vermute, daß diese Ehe für Jakob einen Neubeginn bedeutete, daß er sich damit endgültig von seinen Bindungen an Familie und Herkunft in Tysmenitz zu lösen trachtete. Auf jeden Fall war er nunmehr ein Anhänger der Haskala, denn die Ehe wurde vor dem Reformrabbiner Mannheimer in Wien geschlossen.

In dieser Phase des Neubeginns starb Jakobs Vater Schlomo in Tysmenitz (21.2.1856). Jakob war wahrscheinlich nicht beim Begräbnis seines Vaters anwesend, konnte also auch nicht das Totengebet "Kaddisch" sprechen. Ich habe die Vermutung, daß dieser Verlust für Jakob ein tiefgehendes Ereignis war und daß - wie bei Sigmund Freud 40 Jahre später - der Tod des Vaters in Jakob Schuldgefühle wachrief, mit der Tradition der Väter gebrochen zu haben. Er war ein Maskil geworden, hatte sich aus dem orthodoxen Judentum gelöst, hatte auch vielleicht gegen die strengen Gebote des Glaubens verstoßen auf seinen Reisen oder auch im Zusammenhang mit seinen beiden Ehen in der Fremde.

Ich stelle mir vor, daß Jakob aus diesen von mir vermuteten Schuldgefühlen heraus ein ganz besonders intensives Gefühl für den Sohn empfand, den Amalie 2 1/2 Monate nach dem Tod Schlomos zur Welt brachte: Sigmund, mit jüdischem Namen Schlomo. Den Tod des Vaters und die Geburt Sigmunds trug Jakob auf einem Gedenkblatt in der Bibel ein, die er seit 1848, dem Jahr der Judenemanzipation, besaß. Von keinem seiner anderen Kinder hat er die Geburt dort verzeichnet. Ich meine, daß dies ein Zeichen für die besondere Bedeutung ist, die Sigmund für seinen Vater hatte.

Sigmund Freud ist am 6. Mai 1856 in Freiberg/Mähren, damals Österreich, geboren. Sein Vater war 40, seine Mutter 20 Jahre alt. Die Familie bewohnte ein Zimmer im Haus des Schlossers Zajíc, das wahrscheinlich noch heute in fast unveränderter Form existiert. Freud kam als Onkel auf die Welt, denn sein Neffe John (Jochanan), der Sohn seines Stiefbruders Emanuel und dessen Frau Maria, war bereits ein Jahr alt. Emanuels Familie wohnte in einem Haus am Marktplatz, nur wenige Straßen von der Wohnung des Vaters entfernt. Ein halbes Jahr nach Freuds Geburt wurde seine Nichte Pauline geboren. Philipp, der zweite Stiefbruder Freuds, der gleichaltrig mit Amalie war, war unverheiratet und wohnte in einem Haus direkt gegenüber von Jakobs Haus.

Im Oktober 1857 wurde Sigmunds Bruder Julius geboren, der dann am 15. April 1858 an "Gedärmentzündung" starb, als Sigmund also noch nicht ganz zwei Jahre alt war. Freud behauptete später, daß er diesen Bruder mit "bösen Wünschen und echter Kindereifersucht" begrüßt habe und bei seinem Tod sich Vorwürfe machte. (1950, S. 189). Solche Gefühle eines kleinen Kindes muß man selbstverständlich im Zusammenhang mit seiner Mutterbeziehung sehen: Amalie hatte einen zwei oder drei Jahre jüngeren Bruder, der ebenfalls Julius hieß. Genau einen Monat vor dem Tod ihres Kindes Julius war dieser Bruder Julius an Lungentuberkulose in Wien gestorben.

Ob sie ihren neugeborenen Sohn Julius nannte, da schon abzusehen war, daß ihr Bruder sterben würde? Starb ihr Kind, weil ihr Schmerz über den Tod des Bruders so groß war, und sie ihn deshalb nicht ausreichend pflegen konnte? Hat sie mit Panik auf die Erkrankung ihres Kindes reagiert, weil dies so kurz nach dem Tod ihres Bruders geschah und hat das Kind wegen ihrer Panik nicht überlebt? - Wie auch immer die Zusammenhänge gewesen sein mögen, der zweifache Verlust war sicherlich sehr schwer für sie zu ertragen und hatte deshalb Auswirkungen auf den zweijährigen Sigmund.

9 1/2 Monate nach dem Tod von Julius wurde Sigmunds Schwester Anna am 31.12.1858 geboren. Die Geburt dieser Schwester war für Freud aus mehreren Gründen traumatisch: Während seine Mutter noch im Wochenbett lag, wurde nämlich die von Sigmund heißgeliebte Kinderfrau von seinem Halbbruder Philipp beim Diebstahl ertappt und verschwand plötzlich. Diese Kinderfrau war Tschechin und katholisch. Sie hatte den kleinen Jungen sehr beeindruckt. Es scheint so, als sei sie ihm in mancher Beziehung wichtiger gewesen als die Mutter. Zum mindesten sind Freuds Träume, von denen wir wissen, voll von Bildern, in denen die Kinderfrau als mütterliche Gestalt vorkommt, während Amalie kaum in Erscheinung tritt.

Die Kinderfrau war jemand von der "anderen Seite", sie war anders als die Eltern, sprach eine andere Sprache, ging in eine Kirche, in die sie ihn mitnahm. Außerdem war sie "seine Lehrerin in sexuellen Dingen", wie er in einem Brief an Fließ schreib. Was er damit meinte, können wir wiederum nur aus einem Traum erahnen. Freud schildert da, wie er, auf einer Treppe hinaufgehend, von ihr an den Genitalien berührt wurde, was in ihm - wie er sich erinnerte - erotische Gefühle hervorrief (1950, S. 179).

Die Kinderfrau, so meine ich, war für den kleinen Sigmund in zweifacher Weise eine Verführerin: Sie erotisierte ihn, was bei ihm wahrscheinlich schon früh dazu führte, daß er masturbierte, wofür er aber von ihr oder von den Eltern bestraft wurde. Zum anderen "verführte" sie ihn zu einer positiven emotionalen Haltung gegenüber dem Christentum, der Heiligenverehrung, den ornamentalen Tendenzen, die dem Judentum so gänzlich fremd sind.

Noch ein anderes, möglicherweise traumatisches Ereignis war mit Annas Geburt verbunden: Seltsamerweise hatte der kleine Sigmund die Fantasie, daß sein Bruder Philipp etwas mit der Entstehung der Schwester Anna zu tun hatte. Freud erinnerte sich einer Szene, die er folgendermaßen beschrieb:

"Die Mutter ist nicht zu finden, ich heule wie verzweifelt. Bruder Philipp sperrt mir einen Kasten auf, und nachdem ich die Mutter auch hierin nicht gefunden, weine ich noch mehr, bis sie schlank und schön zur Türe hereinkommt. "(1950, S. 192 f.)

Freud deutete diese Szene als Angst vor dem Verlust der Mutter, die er wie die kürzlich wegen des Diebstahls verhaftete Kinderfrau eingesperrt glaubte. Seine weiteren Assoziationen zu dieser Erinnerung:

"Der Schrank oder Kasten ist (dem Kind) ein Symbol des Mutterleibes. Es verlangt also in diesen Kasten zu schauen und wendet sich hierfür an den großen Bruder, der (...) an Stelle des Vaters zum Rivalen des Kleinen geworden ist. Gegen diesen Bruder richtet sich (... der) Verdacht, (...) daß er irgendwie das kürzlich geborene Kind in den Mutterleib hineinpraktiziert hat." (1901, S. 52 Fn., Hervorhebungen MK)

Es gibt auch noch andere Träume Freuds mit ähnlicher Thematik. Ich habe die Vermutung, daß Freuds Fantasie über Annas Entstehung nicht ohne einen realen Hintergrund war, daß vielleicht Amalie tatsächlich für Philipp mehr als "stiefmütterliche" Gefühle hatte, daß Philipp in der Tat anstelle des Vaters für den kleinen Sigmund ein Rivale um die Liebe der Mutter geworden war.

Im Frühjahr nach diesen, wie ich vermute, aufwühlenden Ereignissen im Zusammenhang mit Annas Geburt hatte der kleine Sigmund noch ein wichtiges Erlebnis, das später in seinen Träumen auftauchte. Zusammen mit seinem um ein Jahr älteren Neffen John scheint er sich für den Unterschied zwischen kleinen Mädchen und Jungen interessiert zu haben. Da auch John gerade eine kleine Schwester bekommen hatte (Bertha, geb. 22.2.1859), könnte man vermuten, daß die beiden Jungen sich darüber hinaus auch Gedanken über die Herkunft der Babies machten. In dem Aufsatz "Über Deckerinnerungen", der eindeutig autobiographisches Material enthält, hat Freud eine Szene beschrieben, in der John und er mit Johns Schwester Pauline sexuelle Spiele trieben:

"Ich sehe eine viereckige, etwas abschüssige Wiese, grün und dicht bewachsen; in dem Grün sehr viele gelbe Blumen, offenbar der gemeine Löwenzahn. Oberhalb der Wiese ein Bauernhaus, vor dessen Tür zwei Frauen stehen, die miteinander angelegentlich plaudern, die Bäuerin im Kopftuch und eine Kinderfrau. Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines davon bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden anderen mein Vetter (Sigmunds Neffe John), der um ein Jahr älter ist, und meine fast genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester (Sigmunds Nichte Pauline). Wir pflücken die gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl von bereits gepflückten in den Händen. Den schönsten Strauß hat das kleine Mädchen; wir Buben aber fallen wie auf Verabredung über sie her und entreißen ihr die Blumen. Sie läuft weinend die Wiese hinauf und bekommt zum Trost von der Bäuerin ein großes Stück Schwarzbrot. Kaum daß wir das gesehen haben, werfen wir die Blumen weg, eilen auch zum Haus und verlangen gleichfalls Brot. Wir bekommen es auch, die Bäuerin schneidet den Laib mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir in der Erinnerung so köstlich und damit bricht die Szene ab." (1899, S. 540f.)

Freud assoziiert zu diesem Bild: Defloration. Wenn man diese Szene als eine reale ansieht, dann könnte das heißen, daß die beiden Jungen das Mädchen gewaltsam entblößt haben. So wie Freud in einer seiner Schriften die Gefühle eines kleinen Jungen bei er Entdeckung des weiblichen Genitals beschreibt:

"Die infantile Sexualforschung beginnt sehr früh, manchmal vor dem dritten Lebensjahr. (...) Macht der Knabe dann an einer kleinen Schwester oder Gespielin die Entdeckung der Vagina, so versucht er zuerst das Zeugnis seiner Sinne zu verleugnen. (...) Später erschrickt er über die ihm eröffnete Möglichkeit, und etwaige frühere Drohungen wegen zu intensiver Beschäftigung mit seinem kleinen Glied gelangen nachträglich zur Wirkung. Er gelangt unter die Herrschaft des Kastrationskomplexes." (1916-17, S. 313)

Man muß dabei bedenken, daß die Kastration für einen jüdischen Jungen eine sehr viel realistischere Bedrohung darstellt als für einen nicht-jüdischen. Denn die Beschneidung ist selbstverständlich als Brauchtum auch den Kindern bekannt. Es kann sogar sein, daß der kleine Sigmund bei der Beschneidung seines Bruders Julius anwesend war, da in Orten ohne eine Synagoge diese Zeremonie im Elternhaus stattfand.

Das Erlebnis auf der grünen Wiese scheint jedenfalls für ihn noch bedeutsamer geworden zu sein durch das große Trauma seiner Kindheit, der Abreise aus Freiberg. Das genaue Datum der Abreise ist nicht bekannt, es kann aber nicht lange danach gewesen sein. Jakob reiste mit seiner Familie und seinen beiden erwachsenen Söhnen zunächst nach Leipzig. Emanuel mit seiner Familie und Philipp emigrierten dann nach England, während Jakob mit Frau und Kindern nach Wien ging und sich dort niederließ.

Während der Eisenbahnfahrt nach Leipzig hatte der kleine Sigmund Angst: Die Gasflammen auf dem Bahnhof in Breslau erinnerten ihn an "brennende Geister in der Hölle". Er meinte offenbar, in die Hölle zu reisen - wie ich vermute, aus Strafe für ein Vergehen, dessen er sich schuldig fühlte. Denn wie er selbst später in seinen Arbeiten über kindliche Sexualität ausführte, können die Bewegungen der Eisenbahn bei einem Kind sexuelle Erregung auslösen, was wegen der Kastrationsdrohung jedoch Schuldgefühle wecken muß. Daß seine Schuldgefühle sich an das Bild einer Höllenfahrt knüpften, hängt sicher auch mit seinen Erfahrungen mit der Kinderfrau zusammen, denn die Hölle gibt es in der jüdischen Symbolik nicht.

Ich glaube allerdings, daß dies nicht der einzige Grund war, weshalb der Dreijährige seine erste Eisenbahnfahrt nicht genoß, sondern Angst hatte. Ich habe den Eindruck, daß Jakob und die anderen Erwachsenen voller Aufruhr waren, weil die Schatten der Vergangenheit Jakob eingeholt hatten. Freud gab selbst an, daß Jakobs Geschäft eine ungünstige Wendung nahm (Brief an Silberstein 9.9.1875), und dies die Abreise notwendig machte. Man hat deshalb auf eine Wirtschaftskrise in Freiberg geschlossen, wofür es jedoch keine Belege gibt. Wahrscheinlich hat Jakob also aus persönlichem Versagen sein Handelsgeschäft aufgeben müssen.

Warum aber ging Jakob nicht mit Emanuel und Philipp nach Manchester, wo die beiden sich offenbar relativ schnell geschäftlich etablierten, sondern zog nach Wien, wo er überhaupt nicht reüssierte, vielmehr von der Unterstützung durch die Familie seiner Frau seine bald neunköpfige Familie ernähren mußte? Wenn man meiner Vermutung folgt, daß zwischen Amalie und Philipp eine unerlaubte Beziehung bestand, dann kann Jakob sich von seinen beiden Söhnen getrennt haben, um diese Beziehung zu zerstören. Wurde Philipp verbannt und sollte Emanuel, der offensichtlich zuverlässigere Sohn, über seinen Bruder wachen?

Es gibt noch andere mögliche Gründe für die Abreise aus Freiberg, die in ähnlicher Weise vermuten lassen, daß die Erwachsenen unter Spannungen standen. Das würde erklären, weshalb dieses traumatische Erlebnis Freud noch bis in sein Erwachsenen-Alter verfolgte und er zeitlebens unter einer Eisenbahnphobie litt.

In Wien lebte die Familie Jakob Freuds in ärmlichen Verhältnissen in der Leopoldstadt, dem Stadtteil mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung (17 % um die Jahrhundertmitte, 31 % gegen Ende des 19. Jahrhunderts).

Die Freuds gehörten zu den Armen. In vielen Briefen Freuds noch aus seiner Studienzeit ist die Rede davon, daß er, der selbst kein Einkommen hatte, seine Eltern und Geschwister unterstützen mußte. Jakob hat offenbar nie geschäftlich in Wien Fuß gefaßt. Er wird zwar in allen Unterlagen als Wollhändler bezeichnet, hat aber nie Steuern bezahlt, also entweder sehr wenig eingenommen oder aber gar keinen richtigen Handel mehr geführt. Auch gesundheitlich ging es den Freuds nicht gut. Amalie war an einer leichten Form von Tuberkulose erkrankt und hielt sich in den Jahren von 1857 bis 1875 mehrfach zur Kur in den Karpaten auf. Freuds Schwester Anna erwähnt in ihren Memoiren, daß die Kinder während diese Zeiten von Amalies Eltern versorgt wurden.

Für den kleinen Sigmund war der Umzug nach Wien sicher ein schockartiges Erlebnis. Nicht nur der äußerliche Wechsel der Umgebung - vom kleinstädtischen Freiberg mit seiner tschechischen Bevölkerung in das proletarische Milieu der übervölkerten Leopoldstadt mit ihrem hektischen Treiben - sondern vor allem die Veränderung seiner wichtigsten Bezugspersonen dürfte für ihn ein entscheidendes Erlebnis gewesen sein. Zunächst einmal hatte er statt der drei "Mütter" in Freiberg (Amalie, die Kinderfrau und Marie, die Mutter von John, Pauline und Bertha) nunmehr nur noch eine. Auch die drei "Väter" (Jakob, Emanuel und Philipp) hatten sich auf einen reduziert. Die Spielgefährten waren verschwunden, dafür kamen immer mehr Schwestern zur Welt, insgesamt fünf, bis, 1866, also zehn Jahre nach seiner Geburt, der jüngste Bruder Alexander geboren wurde.

Aber auch seine Eltern hatten sich in seinen Augen verändert. Die Mutter war im Kreise ihrer Verwandten sicher eine andere als damals in Freiberg, wo die 20jährige Frau offenbar niemanden aus der eigenen Verwandtschaft in der Nähe hatte. In Wien lebten dagegen ihre Eltern und mehrere Verwandte, die sie unterstützten. Der Vater war in Sigmunds Augen von einem überdimensionalen Patriarchen, dem Herrscher über die eigenen Familie und über die seiner erwachsenen Söhne, zu einem Bittsteller herabgesunken, der nicht einmal seine eigene Frau und Kinder ernähren konnte.

Was könnte Freud nun aber gemeint haben, als er seinen Vater "pervers" nannte und ihm die Schuld für die "Hysterie" seines Bruders und seiner Schwestern zuschrieb (s. Zitat oben)? "Pervers" war für ihn ein Ausdruck für sexuelle Übergriffe verschiedenster Art seitens männlicher Personen, die er bei seinen PatientInnen aus deren Kindheit rekonstruieren konnte. Vermutete er oder wußte er gar von sexuellen Übergriffen seines Vater bei seinen Schwestern und dem Bruder? Von seinem Bruder Alexander meinte er in Briefen an Fließ, daß er "ein sehr gequälter Neurastheniker" (16.8.1895) sei und vielleicht etwas von "seiner einstigen Infektion schlummernd" (17.9.1899, MK S.: 244) in sich trage. Wie und womit soll sich Alexander "infiziert" haben? Vermutete er einen Zusammenhang zwischen dieser "Infektion" und der "Perversion" des Vaters?

Freuds fünf Schwestern - die bis auf Anna als alte Frauen in Vernichtungslagern der Nazis umgekommen sind -, wissen wir wenig. Anna, Rosa, Mitzi und Paula heirateten und hatten Kinder. Dolfi blieb unverheiratet bei der Mutter bis zu deren Tod. Von Mitzi, die "immer isoliert" war und "ein sonderbares Wesen" hatte, vermutete er, daß ihr Mann "nicht unschuldig" sei an der "Hysterie" der drei Töchter (27.4.1898, MK S. 106).

Freud beabsichtigte, einen nicht überlieferten "Großen Traum", den er "bis zum Grunde analysiert" hatte, in die "Traumdeutung" aufzunehmen, gab dies aber auf Anraten seines Freundes Fließ auf. In diesem Traum sind - das lassen seine Andeutungen vermuten - Themen enthalten gewesen, die auf seine sexuellen Erlebnisse in Wien und in Freiberg zurückgingen.

So müssen wir uns mit den vagen Hinweisen auf konkrete Vorkommnisse von sexuellen Übergriffen in Freuds Herkunftsfamilie zufriedengeben. Es ist zu erwarten, daß in den noch unveröffentlichten Familienbriefen und anderen Dokumenten die noch immer bis über das Jahr 2000 hinaus im Archiv der Library of Congress in Washington gesperrt sind, weitere Auskünfte enthalten sind. Bis dahin müssen wir uns mit den wenigen Hinweisen begnügen, die Freud in seine Schriften eingebracht hat. Eine solche Szene aus der frühen Wiener Zeit handelt davon, daß er selbst mit seiner Schwester Anna etwas Verbotenes tat:

"Mein Vater machte sich einmal den Scherz, mir und meiner ältesten Schwester ein Buch mit farbigen Tafeln (...) zur Vernichtung zu überlassen. Es war erziehlich kaum zu rechtfertigen. Ich war damals fünf Jahre, die Schwester unter drei Jahren alt, und das Bild, wie wir Kinder überselig dieses Buch zerpflücken (wie eine Artischocke, Blatt für Blatt, muß ich sagen), ist nahezu das einzige, was mir aus diese Lebenszeit in plastischer Erinnerung geblieben ist. Als ich dann Student wurde, entwickelte sich bei mir eine ausgesprochene Vorliebe, Bücher zu sammeln und zu besitzen (...). Ich habe diese erste Leidenschaft meines Lebens, seitdem ich über mich nachdenke, immer auf diesen Kindereindruck zurückgeführt, oder vielmehr, ich habe erkannt, daß diese Kinderszene eine 'Deckerinnerung' für meine spätere Bibliophilie ist. (Vgl. meinen Aufsatz 'Über Deckerinnerungen'.) Natürlich habe ich auch frühzeitig erfahren, daß man durch Leidenschaften leicht in Leiden gerät." (Traumdeutung 1900a, S. 185f.)

Freuds eigener Rückverweis auf die in der "Deckerinnerung" geschilderte Szene auf der Löwenzahnwiese in Freiberg und viele weitere Assoziationen zu dieser Kindheitserinnerung, lassen auch andere Autoren (Grinstein) vermuten, daß der Fünfjährige mit der Schwester Anna in Wien nicht nur das Buch "wie eine Blüte zerpflückt", also "defloriert" (!) hat, sondern hier noch einmal an Anna seine Untersuchung der Genitalien eines Mädchens wiederholte, um seine ungestillte Neugier nach dem Unterschied zwischen Mädchen und Jungen zu befriedigen.

Wie ich später darstellen werde, scheint Freud diese Suche auch als Erwachsener nicht überwunden gehabt zu haben. Seine Be- (oder besser:) Miß-Handlung von Emma Eckstein (s. Teil 2) weist überdeutliche Beziehungen zu diesen Kindheitserlebnissen auf. Ja, man könnte sagen, daß die gesamte Entwicklung seiner Theorie der kindlichen Sexualität letztlich auf dieser von ihm als Kind unbeantwortet gebliebenen Suche gegründet ist.

Als Kind in Wien löste Freud seine Konflikte, indem er sich zu einem Musterknaben entwickelte. (In seiner Theorie der kindlichen Sexualentwicklung: Die Latenz-Phase.) Ich glaube, das Erlebnis, den Vater schwach zu sehen, war für den kleinen Sigmund der entscheidende Anstoß, jenen enormen Ehrgeiz zu entwickeln, der Freuds weiteres Leben bestimmte. Mir scheint, als habe er hier in Wien erstmals den Auftrag verstanden, der hieß, es besser zu machen als der Vater. Dieser Auftrag war allerdings ambivalent, da er zugleich das Gebot enthielt, die Schwäche des Vaters nicht zu sehen. Jakob, so scheint es, konnte immer schwächer, immer hilfloser und "perverser" (was immer Freud damit meinte!) werden, weil - oder besser - damit Sigmund zu immer größerem Glanz heranwuchs. Sigmund, so kann man vermuten, begrub seinen berechtigten Zorn auf den unfähigen Vater, weil dieser ihn mehr als sich selbst liebte, ihn zum Delegierten seiner eigenen unerfüllten Wünsche aufbaute. In Freuds eigenen Worten:

"Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was unrecht, was von alters her verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen." (1936, S. 292)

Freud wurde ein Musterkind. Vor allem in der Schule brillierte er. Obwohl er nie in die Grundschule ging, war er im Gymnasium immer einer der besten oder sogar Primus seiner Klasse. Anna Freud Bernays berichtet, daß Amalie ihm Unterricht gab. Sein Vater las mit ihm die Bibel. Schon mit sieben Jahren konnte Freud anscheinend allein lesen. Jakob besaß ein Exemplar der Philippsonschen Bibel, einer Bibel des aufgeklärten Judentums. Sie war bebildert, kommentiert und zweisprachig, hebräisch und deutsch. Die gemeinsame Bibellektüre scheint für beide eine sehr befriedigende Beschäftigung gewesen zu sein. Vielleicht bemerkte Jakob in diesem Zusammenhang zum erstenmal, daß er die Interessen seines Sohnes auf geistige Dinge lenken konnte, daß Sigmund versprach, ein Gelehrter zu werden. Sigmund erlebte dabei, welche Bedeutung er für den Vater hatte. Vielleicht erlebte er auch, daß es gut war, ein Jude zu sein, den "Gojim", den Nicht-Juden gerade in bezug auf intellektuelle Fähigkeiten überlegen zu sein.

Einige Geschichten aus der Bibel haben beide wahrscheinlich mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen, weil sie so viele Parallelen zu ihrer eigenen Geschichte aufweisen. Dazu gehörte zweifellos die Geschichte von Jakob und seinen Söhnen. Mit Josef, dem liebsten Sohn Jakobs hat sich Freud immer identifiziert. Wie Josef war er seinem Vater "im Alter" geboren worden; wie Josef war er ehrlich und gescheit; wie Josef wurde er ein Traumdeuter und mußte in ein fremdes Land, Ägypten, das für Freud in vieler Beziehung ein Symbol für die "andere Seite", für die nicht-jüdische Welt darstellte, in die er aufgenommen werden wollte; wie Josef gelangte er in "Ägypten" zu hohem Ansehen und konnte seinem alten Vater ein Leben im Wohlstand verschaffen. Vor allem aber war Josef ein Sohn, der seinen Vater nicht nach dessen Vorleben fragte oder dieses ihm gar zum Vorwurf machte. Denn der Jakob der Bibel hatte sich mehrfach versündigt - dem Bruder Esau gegenüber, dem er das Erstgeburtsrecht abgekauft hatte, dem Schwiegervater Laban gegenüber und auch seinem liebsten Sohn Josef gegenüber, den er schutzlos mit den haßerfüllten Halbbrüdern ziehen ließ, die ihn dann in den Brunnen warfen.

Aber nicht nur die Geschichten aus der Bibel waren dem Kind Sigmund ein Erlebnis, auch die Bilder der Philippsonschen Bibel. Diese Bibel ist mit 685 Holzschnitten illustriert, die Landschaften, Tiere, Pflanzen des Mittelmeerraums zeigen, sowie viele Darstellungen aus dem Leben anderer Völker. Besonders die Bilder von ägyptischen Göttern scheinen ihn beeindruckt zu haben, denn sie tauchten nicht nur in Freuds Träumen als Erwachsener wieder auf, sondern scheinen auch seine Sammelleidenschaft bestimmt zu haben. Diese Abbildungen ägyptischer Götter finden sich in der Philippsonschen Bibel gehäuft als Illustrationen zu Textstellen, in denen das Judentum mit seiner Ablehnung bildlicher Darstellungen Gottes als Zeichen seiner Auserwähltheit hervorgehoben wird und die "Götzenverehrung" der anderen Religionen als minderwertiger dargestellt wird. Wenn wir davon ausgehen, daß Jakob noch im orthodoxen Milieu aufgewachsen ist, bzw. ein Assimilationsjude der ersten Generation war, dann müssen diese Passagen in der Bibel für ihn besonders konfliktträchtig gewesen sein, mahnten sie ihn doch daran, daß er selbst die heiligen Gebote gebrochen hatte.

Sigmund Freud hat später seine Räume in der Berggasse 19 mit unzähligen kleinen und größeren Statuetten gefüllt, die zum Teil mit den in der Philippsonschen Bibel abgebildeten Göttern mit Vogelköpfen identisch waren. War seine Verehrung der "fremden" Götter nicht eine Provokation des Gottes der Väter? Erfüllte er also in diesem Sinne den Auftrag seines Vaters zur Opposition gegen die orthodoxe jüdische Tradition? Oder beschwor er damit eher den Schutz der neuen Götter vor der Strafe des alten Judengottes, so als sei die alte Kinderfrau wieder aufgestanden, die ihn in die Kirchen mitnahm und ihn die Anbetung der Heiligen-Figuren lehrte?

Daß Freud solche Ängste hatte und daß sie eng mit seiner archäologischen Sammelleidenschaft, wie auch mit der "Verehrung fremder Götter" zusammenhingen, wissen wir. Es gelang ihm nur schwer, dem Fluch des Gottes der Väter zu trotzen und nach Rom, der Stadt der Päpste, zu fahren. Auch seine Depersonalisationserfahrung beim Besuch der Akropolis in Athen im Jahre 1904, die ja ein "Götzentempel" nicht nur der Griechen, sondern auch des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts darstellt, könnte man als Zeichen für seine Furcht vor der Strafe ansehen, die ihm vom alten Judengott drohte (1940, S. 202f., und 1936). Vor allem aber war seine Auseinandersetzung mit der Figur des Moses geprägt von dieser Ambivalenz. - Im zweiten Teil werde ich darauf im Detail eingehen.

Kehren wir noch einmal zurück zu Freuds Jugend. Die Themen, die ihn in der Kindheit in Freiberg und Wien bedrängten, scheinen auch seine eigene Sexualentwicklung beeinträchtigt zu haben. Denn, wie er in dem Aufsatz "Über Deckerinnerungen" schildert, stand seine erste, unerfüllt gebliebene Liebe unter dem Zeichen seiner unbewältigten Vergangenheit in Freiberg und Wien. 1871, als 15-Jähriger, kehrte Freud in seine Geburtsstadt Freiberg zurück. Gisela Fluß, die er in Briefen an seinen damaligen Schulfreund Eduard Silberstein "Ichthyosaura" (Fluß-Echse) nannte, war die Tochter eines jüdischen Geschäftsfreundes, der mit seiner Familie nicht wie Jakob Freud nach Wien gegangen war, sondern in Freiberg als Textilfabrikant ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden war. Freud schrieb:

"Ich war siebzehn Jahre alt, und in der gastlichen Familie war eine 15jährige Tochter, in die ich mich sofort verliebte. Es war meine erste Schwärmerei, intensiv genug, aber vollkommen geheim gehalten. (...) Ich erging mich viele Stunden lang in einsamen Spaziergängen durch die wiedergefundenen herrlichen Wälder mit dem Aufbau von Luftschlössern beschäftigt, die seltsamerweise nicht in die Zukunft strebten, sondern die Vergangenheit zu verbessern suchten. (...) wenn ich in der Heimat geblieben wäre (...) wenn ich den Beruf des Vaters fortgesetzt hätte und endlich das Mädchen geheiratet, das ja, all die Jahre über, mir hatte vertraut werden müssen! (...) ich kann mich genau erinnern, wie lange nachher die gelbe Farbe des Kleides, das sie beim ersten Zusammentreffen trug, auf mich gewirkt, wenn ich dieselbe Farbe irgendwo wieder sah." (1899a, S. 543, MK S. 251)

Gelb waren auch die Löwenzahnblüten in der Szene zwölf Jahre zuvor in Freiberg! Seine Gefühle für Gisela weckten also vermutlich in ihm Schuldgefühle aus der frühen Kindheit. Er selbst schrieb in seinem Kommentar:

"Einem Mädchen die Blume wegnehmen, das heißt ja: deflorieren. Welch ein Gegensatz zwischen der Frechheit dieser Phantasie und meiner Schüchternheit bei der ersten (...) Gelegenheit. (...) Das Verlockendste an dem ganzen Thema ist für den nichtsnutzigen Jüngling die Vorstellung der Brautnacht. (...) Diese Vorstellung wagt sich aber nicht ans Licht, (...) So bleibt sie unbewußt." (1899a, S. 546, MK S. 252)

Und an anderer Stelle verbindet er solche unerlaubten Fantasien mit der Onanie, unter der er zweifellos auch als Erwachsener litt, weil er sie für schädlich, für krankmachend hielt. Sexuelle Fantasien haben, so meinte er:

"(...) wenn sie nicht rasch vorüberziehen, keinen anderen Ausweg, als sich in Phantasien auszuleben, welche die Sexualbetätigung der Mutter unter den mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben, deren Spannung auch besonders leicht zur Lösung im onanistischen Akte führt. (...) die eifrig geübte Onanie der Pubertätsjahre hat ihren Beitrag zur Fixierung jener Phantasien geleistet." (1910h, S. 192f., MK S. 252, vgl. auch S. 344 Anm. 29)

Daß Freud hier (ebenso wie an anderen Stellen) auch davon spricht, Pubertierende würden ihrer Mutter unerlaubte Sexualbeziehungen zuschreiben, ist Hinweis darauf, daß auch der junge Sigmund solche Gedanken hatte, die - wie ich vermute - auf reale Erlebnisse in Freiberg (Amalie und Philipp) zurückgehen.

 


Teil 2:
Die Revision der Verführungstheorie und die Frage sexueller Übergriffe

Bis vor wenigen Jahren stimmten die Biographen Freuds mit ihm darin überein, daß die Aufgabe der Verführungstheorie seine große Leistung war, die die eigentliche Begründung der Psychoanalyse ermöglichte. Und in der Tat entstand unmittelbar nach dem "Widerruf" das auch in Freuds Augen bedeutendste seiner Werke, die "Traumdeutung" (1900a), das der Psychoanalyse den Durchbruch verschaffte. Doch mehren sich seit einiger Zeit die Stimmen, die den Wert der Verführungstheorie für sehr viel höher einschätzen und es bedauern, daß er sie aufgab. (Alice Miller, Jeffrey M. Masson)

Zum Zeitpunkt der Krise, die zur Aufgabe der Verführungstheorie führte, war Freud 40 Jahre alt, seit 10 Jahren verheiratet und Vater von 6 Kindern. Die Tochter Anna war 1895 als letztes Kind geboren. Beruflich und wissenschaftlich hatte er eigentlich eine akademische Laufbahn als Neurophysiologe geplant. Nachdem er sich jedoch 1882 mit seiner späteren Frau Martha Bernays verlobt hatte, beschloß er, eine Arztpraxis aufzumachen. Dazu suchte er in einer Wiener Krankenhaus klinische Erfahrung und war auch in der psychiatrischen Abteilung tätig, wo er zum erstenmal Patienten behandelt. Seine Studienreise nach Paris zu Jean Martin Charcot brachte Freud in Kontakt mit dessen Suggestionsmethode bei hysterischen Patientinnen, die ihn sehr beeindruckte.

Sein Freund und Gönner, der Wiener Nervenarzt Heinrich Breuer, machte ihn mit einer neuartigen Behandlung hysterischer PatientInnen bekannt, der "kathartischen" Methode. Breuer hatte eine Patientin, die vielzitierte Anna O. (Bertha Pappenheim) in Hypnose versetzt und sie frühkindliche Erlebnisse erinnern lassen, wodurch ihre teilweise sehr schweren Symptome verschwanden. (Obwohl sie als erste psychoanalytisch behandelte Patientin in die Geschichte eingegangen ist, war sie nie Freuds Patientin.) Freud entwickelte diese Methode dann weiter, indem er die hypnotische Suggestion aufgab und das freie Assoziieren, sowie die Träume seiner PatientInnen als Form der Rückerinnerung frühkindlicher Erlebnisse anwendete.

In dieser Zeit unterschied Freud zwei große Gruppen von psychischen Störungen, für die er nicht nur unterschiedliche Ursachen, sondern auch unterschiedliche Heilungsmöglichkeiten annahm. In der psychoanalytischen Literatur werden diese beiden theoretischen Ansätze oft nicht klar unterschieden, was zu Verwirrungen Anlaß gibt und auch die unterschiedliche Relevanz beider Theorien für Freud selbst nicht klar erkennen läßt.

Die eine Gruppe umfaßte die von ihm so genannten "Abwehrneurosen", dazu gehören vor allem die Hysterie und die Zwangsneurose (heute wohl vorwiegend als Borderline oder Schizophrenie diagnostiziert). Hier vermutete er als Ursache frühkindliche sexuelle "Verführungen". Die Therapie war hier die Rückerinnerung der frühen Traumatisierungen, wodurch die Symptome manchmal schlagartig verschwanden. Ich komme darauf noch zurück.

Die Aktualneurose
Die andere Gruppe waren die sogenannten "Aktualneurosen". Hier vermutete Freud als Ursache bestimmte aktuelle Sexualpraktiken wie Onanie, Enthaltsamkeit, sowie "unnormale" Sexualpraktiken wie Coitus interruptus (für Männer und Frauen machte er hier Unterschiede). Symptome waren Neurasthenien (Kopfschmerz, Nervenreizungen) und Angstneurosen (Herzarrhythmien, Atembeschwerden usw., verbunden mit Angstzuständen). Eine Heilung der Aktualneurosen erschien ihm nur möglich, wenn "normaler" und regelmäßiger Geschlechtsverkehr stattfinden konnte. Eine Psychotherapie sei hier nicht möglich, weil sie "nicht psychisch determiniert ..., sondern als direkte toxische Folgen des gestörten Sexualchemismus aufgefaßt werden müssen." (So noch 1925 in seiner "Selbstdarstellung", S. 57.)

Es ist nun sehr aufschlußreich zu wissen, daß Freud selbst unter den Symptomen der "Aktualneurosen" litt. "Neurasthenische" Symptome hatte er, wie aus Briefen hervorgeht, offenbar schon als junger Mann. Eine "Angstneurose", nämlich schwere Herzbeschwerden, Atemnot machten ihm in den Jahren 1893/94 zu schaffen. Auch litt er an einer "Eisenbahnphobie", was ihn zwar nicht am Reisen hinderte, doch erwähnt er seine Ängste in vielen Briefen an Fließ.

Prüfen wir nach, wie es um Freuds Sexualleben in jener Zeit bestellt war, das ja - nach der Theorie der "Aktualneurosen" - Ursache für seine eigenen Beschwerden sein müßte: Obwohl seine Briefe an Fließ sehr freimütig sind, finden sich auch in der ungekürzten Ausgabe keine Hinweise darauf, daß Freud unter einem Drang zu onanieren litt. Doch kann man aus vielen Äußerungen schließen, daß dies für ihn ein Problem war, etwa wenn er, der Kettenraucher, schrieb, daß die Onanie "eine Ursucht" sei, "als deren Ersatz und Ablösung erst die anderen Süchte nach Alkohol, Morphin, Tabak etc. ins Leben treten." (1986, S. 313, MK S. 45)

Sicher ist auch, daß Freud in jenen Jahren mit seiner Frau Konzeptionsverhütung, und zwar vermutlich Abstinenz, praktizierte. Das letzte Kind, Anna (geb. 1895) ist, wie aus einem Brief an Fließ hervorgeht, nicht mehr gewollt. Später schrieb er: "Die sexuelle Erregung ist für einen wie mich nicht mehr zu brauchen" (1897) oder: "mit dem Kinderzeugen bin ich fertig" (1900), "die Ehe ist längst amortisiert, jetzt gibt es nichts mehr als - Sterben" (1911) (MK S. 44). In einer theoretischen Arbeit aus dieser Zeit schrieb er, wie ich vermute aus eigener Erfahrung:

"Erkundigt man sich (...) nach Anzahl und Reihenfolge der Kinder und stellt diese Ehechronik dem (...) Verlauf der Neurose gegenüber, so ergibt sich (...), daß die Perioden von Besserung oder Wohlbefinden mit den Graviditäten der Frau zusammenfallen, während welcher natürlich der Anlaß für den Präventivverkehr entfallen war." (1895, MK S. 43)

Wenn Freud also, wie es scheint, seine eigenen angstneurotischen und neurasthenischen Symptome auf seine "unnormalen" Sexualpraktiken (Onanie, infolge von Abstinenz als Verhütungsform) zurückführte, gab es für ihn nach seiner eigenen Theorie keine Hoffnung. Denn wenn er keine Kinder mehr wollte, sich aber auch nicht moralisch herabwürdigen und außerehelichen Sexualverkehr suchen wollte, dann mußte er mit seinen "aktualneurotischen" Symptomen leben. Er hatte eine Theorie entwickelt, der er sich auch jede Hoffnung auf psychotherapeutische Hilfe nahm. Es sei nur nebenbei bemerkt, daß Freuds Theorie der Aktualneurosen eine extrem männliche Sicht widerspiegelt. Wie seine Frau Martha die Enthaltsamkeit erlebte, was ihre sexuellen Wünsche waren, scheint ihm keinen Gedanken wert gewesen zu sein.

Allerdings glaubte Freud zum mindesten eine Zeitlang doch an eine Heilung von seiner Aktualneurose. Sein Freund Fließ hatte nämlich eine noch weitgehendere Sexualtheorie und -therapie entwickelt, indem er die Nase als Sexualorgan betrachtete. Freud ließ sich von Fließ an der Nase operieren, um von seinen Symptomen befreit zu werden. Doch machten sie ihre Experimente nicht nur aneinander, sondern auch an einer Patientin Freuds, die an der Operation fast gestorben wäre. Ich erwähne die Geschichte hier vor allem, um auf die Parallelen hinzuweisen, die dieses Ereignis mit einem frühkindlichen Erlebnis des kleinen Sigmund in seinem Geburtsort Freiberg aufweist, von dem ich im ersten Teil berichtete.

Emma Eckstein war eine junge Frau, die an verschiedenen, von Freud als neurasthenisch diagnostizierten Symptomen litt. Fließ kam nach Wien und operierte sie an der Nase, da nach seiner Theorie vaginale Störungen sich auf die Nase übertrugen. Die Operation verlief problemlos, doch nach 14 Tagen stellte sich heraus, daß er in der Wunde ein 50 cm langes Stück Gaze vergessen hatte. Die junge Frau war an der Infektion und der notwendig gewordenen zweiten Operation durch einen anderen Arzt fast gestorben. Es dauerte noch Wochen, bis sie wiederhergestellt war.

Diese Episode war Anlaß für Freuds "Irma-Traum", dem meist-analysierten Muster-Traum für alle Psychoanalytiker. Bis zur Veröffentlichung der vollständigen Sammlung der Fließ-Briefe wußte niemand, daß diesem Traum das reale Erlebnis mit Emma Eckstein zugrundelag, weil die entsprechenden Briefe nicht enthalten waren. Auch Freud hat die Emma-Episode verschwiegen und nicht in die Deutung des Traumes einbezogen. Noch weniger hat er uns den Schlüssel gegeben, diese Geschichte mit seiner frühkindlichen Szene auf der Löwenzahnwiese in Freiberg zu verknüpfen. Damals hatte er als Dreijähriger mit seinem um ein Jahr älteren Neffen John an dessen Schwester Pauline ebenfalls "herumexperimentiert", um zu erfahren, daß kleine Mädchen keinen Penis haben. Ich glaube, wir gehen nicht fehl anzunehmen, daß Freud hier - vor allem in bezug auf seine Gefühle des Erschreckens und der Schuld - eine Wiederholungshandlung erlebte.

Es ist erschreckend, wie Freud in den nächsten Wochen seinen Freund in Schutz nahm, und ihn sogar von jeder Schuld zu entlasten versuchte, indem er Emma als Hysterikerin und ihre Blutung als "hysterische Blutung" bezeichnete. Dennoch hatte die Freundschaft von da an einen Bruch. Freud wandte sich nun verstärkt seiner Theorie der Abwehrneurosen, eben der "Verführungstheorie" zu, mit der Fließ wenig anzufangen wußte.

Die "Abwehrneurosen" und Freuds "Verführungstheorie"
Freud behauptete, daß Menschen die an hysterischen, zwangsneurotischen oder paranoiden Symptomen litten, im Kindesalter von Erwachsenen sexuell mißbraucht worden waren. Die Symptome seien, so meinte er, eine "Abwehr" der Erinnerung an die Erlebnisse, deshalb eben die Bezeichnung "Abwehrneurosen". In seiner ausführlichsten Darstellung der Verführungstheorie, dem Aufsatz "Zur Ätiologie der Hysterie " (Mai 1896) bezog er sich auf 18 PatientInnen, bei denen er eine solche Verführung angetroffen hatte:

"In sämtlichen achtzehn Fällen (...) bin ich (...) zur Kenntnis solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der Herkunft der sexuellen Reizung.
In der ersten Gruppe handelt es sich um Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch meist weiblicher Kinder von seiten Erwachsener, fremder Individuen (...), wobei die Einwilligung der Kinder nicht in Frage kam und als nächste Folge des Erlebnisses der Schrecken überwog.
Eine zweite Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende erwachsene Person - Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, leider auch allzu häufig ein naher Verwandter - das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein - auch nach der seelischen Richtung ausgebildetes - förmliches Liebesverhältnis, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt.
In die dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern verschiedenen Geschlechtes, zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden und die nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit sich bringen. (...) Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern vorlag, gelang nun einige Male der Nachweis, daß der Knabe - der auch hier die aggressive Rolle spielt - vorher von einer erwachsenen weiblichen Person verführt worden war (...) Ich bin daher geneigt anzunehmen, daß ohne vorherige Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression nicht zu finden vermögen." (1896, S. 68, MK S. 68)

Freud betonte dabei, daß es nicht die Tatsache der Verführung allein sei, die zur späteren Neurose führe, sondern daß die Erlebnisse immer verdrängt worden waren und dann aus dem Unbewußten wirkten. Die Symptome treten meist zum erstenmal auf in einer Situation, die für den/die Betroffene/n irgendwelche Parallelen mit der ursprünglichen Verführungsszene aufweist, die aber ansonsten den jeweils empfundenen Affekt keinesfalls rechtfertigt.

So geriet z.B. eine von Freuds Patientinnen erstmalig in einem Kaufmannsladen in Panik, als ihr der Verkäufer freundlich zulächelte. Sie konnte daraufhin keine Läden mehr betreten. Freud fand heraus, daß die Frau als Kind mehrfach von einem Kaufmann in dessen Laden an den Genitalien berührt worden war, wobei der Mann gegrinst hatte. Sie konnte dieses Erlebnis aber nie jemandem mitteilen, es wurde verdrängt und produzierte aus dem Unbewußten heraus das Symptom. Immer, so meinte Freud, war das Kind von dem Erwachsenen, der es verführte, in irgendeiner Weise abhängig.

"(...) der Erwachsene, der (...) mit aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung ausgerüstet ist und zur ungehemmten Befriedigung seiner Launen die eine Rolle mit der anderen vertauscht; das Kind, dieser Willkür in seiner Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten erweckt und allen Enttäuschungen ausgesetzt, (...) alle diese grotesken und doch tragischen Mißverhältnisse prägen sich in der ferneren Entwicklung des Individuums und seiner Neurose in einer Unzahl von Daueraffekten aus, die der eingehendsten Verfolgung würdig wären." (1896, S. 75, MK S. 69)

Diese Verführungstheorie, so meinte Freud, sei eine Antwort auf alle seine Fragen. Im Frühjahr 1896 war er überzeugt, Hysterie und Zwangsneurosen definitiv heilen zu können. Denn die Bewußtmachung des Primärerlebnisses mit dem dazugehörigen Affekt hatte bei seinen PatientInnen die Symptome zum Verschwinden gebracht.

Mitte Juni 1896 erkrankte Freuds Vater und es war bald klar, daß er im Sterben lag. Kurz danach schrieb Freud an Fließ in einem Ton, als hätte er schon von seinem Vater Abschied genommen:

"Der Zustand des Alten deprimiert mich übrigens nicht. Ich gönne ihm die wohlverdiente Ruhe, wie er sie selbst wünscht. Er war ein interessanter Mensch, innerlich sehr glücklich; er leidet jetzt sehr wenig, löscht mit Anstand und Würde aus." (1986, S. 206, MK S. 73)

Doch als Jakob am 23.Oktober 1896 gestorben war, schrieb er:

"Auf irgendeinem der dunkeln Wege hinter dem offiziellen Bewußtsein hat mich der Tod des Alten sehr ergriffen. Ich hatte ihn sehr geschätzt, sehr genau verstanden, und er hatte viel in meinem Leben gemacht, mit der ihm eigenen Mischung von tiefer Weisheit und phantastisch leichtem Sinn. Er war lange ausgelebt, als er starb, aber im Innern ist wohl alles Frühere bei diesem Anlaß aufgewacht. Ich habe nun ein recht entwurzeltes Gefühl." (ebda.)

In der Nacht nach dem Begräbnis hatte Freud dann einen Traum, der mir den Schlüssel für das Verständnis seiner Vaterbeziehung zu liefern scheint:

"Einen netten Traum muß ich Dir erzählen von der Nacht nach dem Begräbnis: Ich war in einem Lokal und las dort eine Tafel:
    Es wird gebeten
    die Augen zuzudrücken
Das Lokal erkannte ich gleich als den Friseurladen, den ich täglich besuche. Am Tage des Begräbnisses mußte ich dort warten und kam darum etwas später ins Trauerhaus. Meine Familie (...) nahm (...) mir die Verspätung etwas übel. Der Satz auf der Tafel ist doppelsinnig und heißt nach beiden Richtungen: Man soll seine Pflicht gegen den Toten erfüllen. (Entschuldigung, als ob ich's nicht getan hätte und Nachsicht brauchte - die Pflicht wörtlich genommen.) Der Traum ist also ein Ausfluß jener Neigung zum Selbstvorwurf, die sich regelmälßig bei den Überlebenden einstellt." (1986, 213f., MK S. 74)

Dieser Traum ist neben seiner buchstäblichen Bedeutung: einem Toten die letzte Ehre zu erweisen, offensichtlich auch Ausdruck eines Schuldgefühls Freuds wegen seiner Fluchttendenzen, die sich im Zuspätkommen äußerten. Bezeichnenderweise hat er den Traum in der "Traumdeutung" anders wiedergegeben: Er behauptete, ihn vor dem Begräbnis geträumt zu haben, brauchte also seine Schuldgefühle wegen des Zuspätkommens nicht zu erwähnen!

Eine viel tiefere Bedeutung des Traumes scheint Freud aber selbst nicht erkannt zu haben. Ich meine, daß er sich mit diesem Traum an einen "Auftrag" des Vaters erinnerte, der hieß, "die Augen zuzudrücken", nämlich bestimmte Dinge im Leben des Vaters nicht wahrzunehmen. Ich glaube, daß Freuds theoretische Interessen jener Zeit, die ja intensiv um die Verführungstheorie kreisten, in ihm Ängste wachgerufen hatten, gegen jenes Verbot Jakobs zu verstoßen. Jetzt, als der Vater gestorben war und so viel in ihm aufgerührt worden war, erschein ihm im Traum die Tafel mit der eindringlichen Aufschrift, um ihn vor einer Übertretung des Verbots zu warnen.

Worum es bei diesem Verbot ging, was Jakob von ihm forderte, habe ich in Teil I dargestellt. Es ging um zwei große Themen: Die Sexualität und die Autorität. Sigmund scheint seinem Vater Jakob sowohl in bezug auf dessen Sexualität Vorwürfe gemacht zu haben (s. das Zitat am Anfang), als auch gespürt zu haben, daß Jakobs Hinwendung zum modernen Assimilationsjudentum ein Verrat am Glauben der Väter war, dessen er sich schuldig fühlte. Auf einige Aspekte werde ich noch zu sprechen kommen.

In den nun folgenden Monaten, von Oktober 1896 bis September 1897 kämpfte Freud um seine Verführungstheorie, wie wir sehen werden, vergeblich. Er publizierte nichts mehr dazu. Es war wie ein einsames Ringen, über das er nur seinem Freund Fließ gegenüber Rechenschaft ablegte. Bei seinen Patienten fand er immer eindeutigere Bestätigungen dafür, daß die Verführungen tatsächlich stattgefunden hatten. Ein männlicher Patient war von seinem Onkel sexuell verführt worden, hatte dann seine Schwester mißbraucht, die vorher bei den Szenen mit dem Onkel zugegen gewesen war und später psychotisch wurde. Die eigenen Kinder des Patienten aus zwei Ehen zeigten verschiedenste neurotische Symptome. Freud folgerte: "Du kannst daraus entnehmen, wie sich die Neurose in der nächsten Generation zur Psychose steigert." (11.1.1897, MK S. 79)

Im April berichtete er Fließ von einer Patientin, die ihm gestand, zwischen ihrem 8. und 12. Lebensjahr regelmäßig von ihrem Vaters ins Bett genommen und "äußerlich gebraucht" worden zu sein, wobei sie Angst hatte. Auch einer Schwester sei gleiches geschehen, und von einer Kusine wußte sie, daß sie sich der "Umarmung des Großvaters zu erwehren hatte." (28.4.1897 MK 79) Die Herausgeber der Erstausgabe der Fließ-Briefe haben uns auch diese Berichte von Fällen aus seiner Praxis vorenthalten, offenbar mit der Absicht, Freuds damalige feste Überzeugung von der Realität und der weiten Verbreitung sexueller Gewalt gegen Kinder - vor allem Mädchen - zu vertuschen.

Auch aus anderen Quellen suchte Freud Bestätigung für seine Verführungstheorie: Er interessierte sich für die mittelalterlichen Theorien der Besessenheit und meinte, Parallelen zwischen den Geständnissen der Hexen und denen seiner PatientInnen zu finden. In beiden Fällen ging es um sexuelle Verführungen. Auch die Verfolgung der Hexen durch die Inquisitoren wies seiner Ansicht nach Ähnlichkeit mit den Bestrafungstendenzen seiner PatientInnen auf. Nicht selten nämlich stachen sie sich mit Nadeln oder ließen sich "die Brüste zerschinden". Immer waren die Betreffenden von ihren Vergewaltigern auch mit Nadeln traktiert worden. Bei den Foltermethoden der Inquisitoren, so meinte Freud, "stechen die Inquisitoren wieder mit Nadeln, und (...) den Opfern fällt (...) die alte grausame Geschichte ein. So erinnerten sich dabei nicht nur die Opfer, sondern auch die Henker an ihre erste Jugend." (17.1.1897 MK S. 80) Er besorgte sich den "malleus maleficarum", den Hexenhammer der Inquisition und meinte, die "strenge Therapie der Hexenrichter" zu begreifen. Im Mai formulierte er überdeutlich, wie er sich die Fantasiebildung vorstellte:

"Die Phantasien sind nämlich psychische Vorbauten, die aufgeführt werden, um den Zugang zu diesen Erinnerungen zu sperren. Die Phantasien dienen gleichzeitig der Tendenz, die Erinnerungen zu verfeinern, zu sublimieren. Sie sind hergestellt mittels der Dinge, die gehört werden und nachträglich verwertet, und kombinieren so Erlebtes und Gehörtes, Vergangenes (aus der Geschichte der Eltern und Voreltern) mit Selbstgesehenem." (1986, S. 255, MK S. 83)

Fantasien, so meinte er, dienen also der Selbstentlastung und der Blockierung der Erinnerung an das erschreckende Erlebnis. Es ist für das Kind dann möglich, nur noch an die Fantasie zu denken. Allerdings können auch die Fantasien bedrohlich werden, was dazu führt, Symptome zu entwickeln, die dann auf die ursprüngliche Szene zurückgreifen. Ohne daß es ihm selbst bewußt war, steuerten Freuds Überlegungen darauf zu, sich selbst und seine Familie in die Betrachtung mit einzubeziehen. Im Februar 1897 verdächtigte er seinen Vater - wie schon erwähnt - der "Perversion", die bei seinen Geschwistern zur "Hysterie" geführt habe.

In dieser Zeit begann er auch seine Selbstanalyse. Er berichtete Fließ von eindeutig "verführerischen" Träumen, in denen er "einen Vater als Urheber der Neurose zu ertappen" suchte. Anfang Juni 1897 hatte Freud eine Phase geistiger und wohl auch psycho-motorischer Lähmung. Er konnte nicht mehr schreiben und fühlte, daß er "irgend etwas Neurotisches, komische Zustände, Dämmergedanken, Schleierzweifel" durchmachte, er meinte "in einer Puppenhülle " zu sein, "weiß Gott, was für ein Vieh da herauskriecht." (22.6.1897, MK S. 90) Seinen Zustand nannte er jetzt "Hysterie", deren "Analyse schwerer als irgendeine andere" sei (14.8.1897). D.h. er hatte nun begonnen, seine neurotischen Symptome nicht mehr als Aktualneurose zu deuten, sondern als Abwehrneurose, für die Kindheitserlebnisse und nicht gegenwärtige Sexualpraktiken die Ursache waren. Mir scheint, daß die geistige und physische Lähmung, die ihn während des Sommers plagte, Ausdruck für seine Hemmung war, die "Perversion" seines Vaters wirklich zu erkennen. Durch seine Selbstanalyse kam er dem Geheimnis Jakobs immer näher, deshalb mußte sein Unbewußtes mit immer größerer Kraft gegen die drohende Aufdeckung ankämpfen.

Der Widerruf der Verführungstheorie
Ende August brach Freud nach Italien auf. Auf dieser Reise faßte er den Entschluß, die Verführungstheorie aufzugeben, also die Abwehrneurosen - und das hieß auch seine eigenen neurotischen Beschwerden - nicht mehr auf frühkindliche Verführungserlebnisse zurückzuführen. Der Brief, den er am 21. September 1897 an Fließ schrieb, ist ein einzigartiges Dokument, das uns über Freuds Gründe für seinen Widerruf Aufschluß gibt:

"Ich will also historisch beginnen, woher die Motive zum Unglauben gekommen sind. Die fortgesetzten Enttäuschungen bei den Versuchen, eine Analyse zum wirklichen Abschluß zu bringen, (...) das Ausbleiben der vollen Erfolge, auf die ich gerechnet hatte (...). Dann die Überraschung, daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte, mein eigener nicht ausgeschlossen, die Einsicht in die nicht erwartete Häufigkeit der Hysterie (...), während doch solche Verbreitung der Perversion gegen Kinder wenig wahrscheinlich ist. (...) Dann (...) die sichere Einsicht, daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann. (Demnach blieb die Lösung übrig, daß die sexuelle Phantasie sich regelmäßig des Themas der Eltern bemächtigt.)

(...) Soweit beeinflußt wurde ich bereit, auf zweierlei zu verzichten, auf die völlige Lösung einer Neurose und auf die sichere Kenntnis ihrer Ätiologie in der Kindheit. (...) Es erscheint wieder diskutierbar, daß erst spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf die Kindheit zurückgreifen, und damit gewinnt der Faktor einer hereditären Disposition einen Machtbereich zurück, aus dem ihn zu verdrängen ich mir zur Aufgabe gestellt hatte." (1986, S.283 ff., MK S. 92ff.)

Man kann alle von Freud genannten Gründe mit seinen eigenen, bis dahin von ihm vertretenen Ansichten widerlegen. Mir scheint daher, daß der eigentliche Grund der Satz war: "Mein Vater nicht ausgeschlossen"! (Dieser Satz ist bezeichnenderweise in der Erstausgabe der Fließ-Briefe weggelassen worden!) Freud gab auf, in seiner eigenen Kindheit nach Erlebnissen zu forschen, da er das Tabu Jakobs nicht brechen durfte, das ihm in dem Traum am Tag vor dem Begräbnis von seinem eigenen Unbewußten so eindringlich präsentiert worden war. Nach dem Widerruf wurde Freud geradezu überschwemmt von Träumen, die alle in seine Kindheit in Freiberg zurückreichten:

"Ich kann nur andeuten, daß bei mir der Alte keine aktive Rolle spielt, daß (...) meine 'Urheberin' ein häßliches, älteres, aber kluges Weib war, das mir viel vom lieben Gott und von der Hölle erzählt und mir eine hohe Meinung von meinen eigenen Fähigkeiten beigebracht hat; (...) Daß ich meinen 1 Jahr jüngeren Bruder (der mit wenigen Monaten gestorben) mit bösen Wünschen und echter Kindereifersucht begrüßt hatte, und daß von seinem Tode der Keim zu Vorwürfen in mir geblieben ist. Auch den Genossen meiner Untaten zwischen 1-2 Jahren kenne ich, es ist ein um 1 Jahr älterer Neffe (...).Mit der um 1 Jahr jüngeren Nichte scheinen wir beide gelegentlich grausam umgegangen zu sein. Dieser Neffe und dieser jüngere Bruder bestimmen nun das Neurotische, aber auch das Intensive an allen meinen Freundschaften. (...)"

"Sie (die Kinderfrau, MK) war meine Lehrerin in sexuellen Dingen und hat geschimpft, weil ich ungeschickt war, nichts gekonnt habe. (...) Der ganze Traum war voll der kränkendsten Anspielungen auf mein heutiges Unvermögen als Therapeut. Die Neigung, an die Unheilbarkeit der Hysterie zu glauben, fängt vielleicht hier an. Außerdem hat sie mich mit rötlichem Wasser gewaschen, in dem sie sich früher gewaschen hatte (...), und mich veranlaßt, 'Zehner' wegzunehmen, um sie ihr zu geben." (1986, S. 288ff., MK S. 97ff.)

Als er von "dem älteren Weib" träumte, wußte er nichts von ihrer realen Existenz. Eine Nachfrage bei seiner Mutter ergab, daß es eine solche Kinderfrau tatsächlich gegeben hatte, daß diese gestohlen hatte und dafür ins Gefängnis gekommen war. Alle anderen Traum-Bilder aus der Freiberger Zeit entsprachen ebenfalls voll der Realität. Freud hatte also eigentlich mit diesen Träumen seine gerade abgelegte Verführungstheorie bestätigt bekommen. Es waren dies keine Fantasien, sondern reale Ereignisse, die sich in seinem Unbewußten gespeichert hatten und im Traum als Bilder auftauchten. Doch in demselben Brief, in dem er Fließ von seinen aufschlußreichen Träumen berichtete, tauchte die Ödipus-Theorie zum erstenmal auf:

"Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit (...). Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus (...). Die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück (...) (1986, S. 293, Hervorh. MK, MK S. 101).

Nicht mehr ein reales Erlebnis, sondern ein fantasierter Wunsch, den jeder Mensch (wohlgemerkt: jeder männliche Mensch!) hat, wird verdrängt und läßt eine Neurose entstehen - so seine neue Theorie. Hören wir noch einmal ihn selbst zu diesem theoretischen Wandel:

"(Es galt), einen Irrtum zu überwinden, der für die junge Forschung fast verhängnisvoll geworden wäre. Unter dem Einfluß der (...) traumatischen Theorie der Hysterie war man leicht geneigt, Berichte der Kranken für real und ätiologisch bedeutsam zu halten, welche ihre Symptome auf passive sexuelle Erlebnisse in den ersten Kinderjahren, also grob ausgedrückt: auf Verführung zurückleiteten. Als diese Ätiologie an ihrer eigenen Unwahrscheinlichkeit (...) zusammenbrach, war ein Stadium völliger Ratlosigkeit das nächste Ergebnis. Die Analyse hatte auf korrektem Wege bis zu solchen infantilen Sexualtraumen geführt, und doch waren diese unwahr. Man hatte also den Boden der Realität verloren. Damals hätte ich gerne die ganze Arbeit im Stiche gelassen. (...) Endlich kam die Besinnung, daß man (...) die Erwartungen revidieren müsse. Wenn die Hysteriker ihre Symptome auf erfundene Traumen zurückführen, so ist eben die neue Tatsache die, daß sie solche Szenen phantasieren, und die psychische Realität verlangt neben der praktischen Realität gewürdigt zu werden. Es folgte bald die Einsicht, daß diese Phantasien dazu bestimmt seien, die autoerotische Betätigung der ersten Kinderjahre zu verdecken, zu beschönigen und auf eine höhere Stufe zu heben, und nun kam hinter diesen Phantasien das Sexualleben des Kindes in seinem ganzen Umfange zum Vorschein." (1914, S. 153f., Hervorh. MK, MK S. 23)

"Praktische Realität", d.h. erlittene sexuelle Übergriffe, sind nicht mehr alleinige Ursache für Symptome, sondern "erfundene, fantasierte Traumen", die das Kind entwickelt, um sein "kindliches Sexualleben", seine "autoerotische Betätigung" zu vertuschen. Der Therapeut braucht nun nicht mehr nach realen Vorkommnissen zu forschen, er kann sich mit Fantasien zufriedengeben, denn das Schicksal des Ödipus ist universell: Angeblich hat jeder Knabe sexuelle (libidinöse) Wünsche in bezug auf die Mutter und sucht deshalb den Vater zu beseitigen.

(Anzumerken ist dabei, daß Freud die eigentliche Ödipus-Sage verkürzt hat, indem er nur die Dramatisierung des Sophokles heranzog. In ihrer vollständigen Version paßt sie viel eher zur Verführungstheorie. Denn der Vater des Ödipus, Laios, war ein Päderast, der sich der Entführung eines Knaben schuldig gemacht hatte und von den Göttern mit dem Fluch belegt worden war, daß sein eigener Sohn ihn töten würde und dann seine Witwe heiraten würde. Es war also kein anonymes Schicksal, sondern die Schuld des Vaters, die Ödipus zum Mörder seines Vaters werden ließ.)

Die Folgen des Widerrufs der Verführungstheorie wirken bis heute fort. Alice Miller, die zeitgleich mit mir in ihrem Buch "Am Anfang war Erziehung" eine nahezu identische Kritik an Freuds Widerruf übte, hat dazu eine unübertreffliche Formulierung gefunden:

"Freud (...) mußte aus Selbstschutz eine Theorie entwickeln, in der die Diskretion gewahrt wurde, in der alles 'Böse', Schuldhafte, Ungerechte der kindlichen Phantasie zugeschrieben wurde und die Eltern nur als Projektionsscheiben dieser Phantasien erschienen. Daß die Eltern ihrerseits sexuelle und aggressive Phantasien auf ihr Kind nicht nur projizieren, sondern auch an ihm befriedigen können, weil sie die Macht besitzen, wurde aus dieser Theorie (...) ausgespart. (Miller 1980, S. 79, MK 13)

Literatur:

Zitate nach Sigmund Freud: Studienausgabe (10 Bände und Ergänzungsband) Frankfurt/M. 1969-1975 (S. Fischer Verlag). Und: Sigmund Freud: Gesammelte Werke (18 Bände). 1960-1968. Frankfurt/M. (S. Fischer Verlag).
Freud, Sigmund (1895) (mit Josef Breuer): Studien über Hysterie. In: Studienausgabe Ergänzungsband.
- (1896): Zur Ätiologie der Hysterie. In: Studienausgabe Bd. 6
- (1899): Über Deckerinnerungen. In: Gesammelte Werke Bd. 1.
- (1900): Die Traumdeutung. In: Studienausgabe Bd. 2.
- (1901): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. In: Gesammelte Werke Bd. 4.
- (1910): Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Mann. In: Studienausgabe Bd. 5.
- (1916-17): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Studienausgabe Bd. 1.
- (1925): Selbstdarstellung. In: Gesammelte Werke Bd. 14.
- (1936): Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis (Brief an Romain Rolland). In: Studienausgabe Bd. 4.
- (1940): Abriß der Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke Bd. 17.
- (1950): Aus den Anfängen der Psychoanalyse (Briefe an Wilhelm Fließ). Hrsg.: Marie Bonaparte, Anna Freud, Ernst Kris. Frankfurt/M.
- (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Hrsg.: Jeffrey M. Masson. Frankfurt/M.
Krüll, Marianne (1979): Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung. München. Erweiterte Neuauflage Frankfurt/M. 1992 (im Text MK).
Miller, Alice (1980): Am Anfang war Erziehung. Frankfurt/M.
Masson, Jeffrey Moussaieff (1984): Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek.
Schur, Max (1973): Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt/M. (zuerst: Freud Living and Dying. 1969)

 
 
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